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Artikel vom 28.08.2007

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Mit Schmidt auf Reisen 9

Mit Fotostrecke am Schluss

Huang Shan

Wo Berge und Kunst sich treffen

Von Aurel Schmidt



Huang Shan: Die phantastischen Berg- und Felsformationen haben viele chinesische Maler inspiriert. Fotos: Aurel Schmidt, Basel © 2007


Von seinen zahlreichen Reisen berichtet der Basler Schriftsteller und frühere Redaktor Aurel Schmidt in einer lockeren Folge kürzerer Reisebilder. In der neuen Folge erinnert er sich an die phantastisch geformten Gelben Berge in der Provinz Anhui im Westen von Shanghai in China.

Lange im voraus hatte ich beschlossen, mindestens vier Tage in den Gelben Bergen zu bleiben. Das sollte sich im Nachhinein als Glücksfall erweisen. Ein einziger Tag hätte keine Vielfalt der Eindrücke ergeben. Das ist keine Frage der Zeit, sondern des Wetters – ich sage gleich, worum es geht. Die Wetterverhältnisse schwanken und kippen von Stunde zu Stunde um. Wer nur einen Tag bleibt, sieht die Gelben Berge in einem einzigen Zustand. Wer länger bleibt, kann beobachten, wie sie sich wandeln und ununterbrochen in einen neuen Zustand übergehen: flach, bebend, nah, fern, leuchtend, poetisch, furchteinflössend, sich versteckend oder strahlend wie ein Prachtsbauwerk.

Die Gelben Berge sind ein Bergmassiv in der Provinz Anhui und liegen eine Flugstunde sowie fünf weitere Autostunden westlich von Shanghai. Auf Chinesisch heissen sie Huang (gelb) Shan (Berg). Sie sind wegen ihrer phantastischen Formationen ein Phantom, eine Sensation, ein Traum, ein Gedicht, eine Offenbarung. Ein Ort zum Meditieren. Auf jeden Fall zum Staunen. (Es gab Momente, wo ich dachte: Von hier aus geht es hinüber in eine andere Welt. Wenn ich nicht schon längst dort angekommen bin. Vor vielen Jahren hatte ich in einem Band des Magnum-Fotografen Marc Riboud Bilder des Huang Shan gesehen und seither nur ein Ziel gehabt, diese Bergwelt selber zu sehen.)

Am Morgen, am Abend, bei Sonnenschein, im Regen, unter vorbeiziehenden Wolken, vor allem im Nebel gewähren sie Aussichten, die unvergesslich sind. Im Nebel verschwinden sie und treten wieder hervor wie geisterhafte Erscheinungen. Tagsüber stehen sie in einem stetigen Zusammenspiel mit den Wolken, die über sie hinweg ziehen. Nur der Schnee fehlte.

Berg und Wasser gleich Landschaft

Der Zusammenzug der beiden chinesischen Wörter Berg (shan) und Wasser (shui) ergibt in der chinesischen Sprache den Ausdruck für Landschaft.

In der chinesischen Malerei trifft man Bergdarstellungen an, die an Bizarrerie unüberbietbar sind. Sie erheben sich himmelragend in die Höhe, aber die Höhe ermisst man erst, wenn man in der Tiefe nach einer Hütte sucht oder nach Menschen, die verschwindend winzig sind, so dass es möglich ist, sich ein Bild von der Grösse der Berge zu machen.

In der alten Kunst Chinas ist Landschaft ein willkürliches Arrangement aus Bergen, die sich entweder in sanften Wellen dahinziehen, oft an einem See oder um einen See herum gelegen, oder die in abrupten Erscheinungen wie Dämonen oder Drachen kolossal und drohend in die Höhe ragen.

Natürlich fehlt dieser Kunst jeder reale Bezug. Es sind auch keine idealisierten Figurationen, sondern symbolische Berge, die man sieht.

Aber ob tatsächlich jeder Realitätsbezug fehlt, bleibe dahingestellt. Denn es scheint ziemlich klar, woher die Maler ihre Inspiration für ihre Berg- und Landschaftsdarstellungen hergeholt haben. Nichts ist übertrieben oder surreal oder erfunden. Es müssen die Gelben Berge gewesen sein.

Sportliche Exkursionen

Am ersten Tag fuhr ich, begleitetet von einem chinesischen Führer, mit einer Seilbahn von der Talstation in die Höhe. Was danach folgte, war eine Kletterei über Tausende von Stufen hinab in schwindelerregende Täler und Tiefen und wieder hinauf auf Bergspitzen. Es war ein heisser Tag gewesen, abends in meinem Hotelzimmer fror ich erbärmlich. Die Gelben Berge sind ein Ziel für chinesische Touristen. Ein einziges Mal sah ich einen westlich aussehenden Menschen. Es war eine korpulente Amerikanerin, die sich über die vielen Stufen mühte, keuchte und es kaum schaffte. Sie rief mir ein paar scherzende Worte zu, aber ich war schon weiter. Keine Autos weit und breit. Alles zu Fuss. Schrecklich. Für die anderen grossartig.

Am nächsten Tag, als die Reisenden vom ersten Tag schon lange wieder weitergezogen waren, besuchten wir eine andere Gegend, wiederum unter Aufbietung aller sportlichen Kräfte, um die Tausenden von Treppen und Stiegen und Stufen zu erklimmen und wieder in die Tiefe zu steigen und wieder hinauf und erneut hinab. Am Nachmittag machte ich mich allein auf den Weg und besuchte den Ort, den ich am Morgen kennengelernt hatte.

Vor mir ragten smaragdgrün leuchtende Felsen in abwechselnder Gestalt, wie gebaute Treppen, in die Höhe, an die sich über schwindelerregenden Abgründen Kiefern klammerten.

Ich setzte mich und warte und schaute und war vollauf damit beschäftigt zu warten und zu schauen und die Zeit vorbeifliessen zu lassen und mir zu sagen, dass dies der Augenblick in meinem Leben war, den ich in den Gelben Bergen verbrachte und an den ich mich später erinnern würde. (Wie gerade jetzt, wo ich mich beim Schreiben dieser Zeilen an die Tage in den Gelben Bergen erinnere.)

Manchmal kamen chinesische Touristen vorbei, die ein entsetzliches Gezeter verursachten. Wenn sie eine Zigarette anzündeten, wusste ich, dass der Spuk in fünf bis sechs Minuten vorbei sein würde – die Zeit einer Zigarettenlänge. Hatten sie etwas vom Ort gesehen? Schwer vorstellbar. (Vielleicht doch. Aber dann zeigten sie es nicht.) Nachdem sie gegangen waren, hatte ich die kleine Felskanzel mit dem Blick auf die mehr groteske als erhabene Berglandschaft vor mir wieder für mich allein.

Zwei Stunden blieb ich sitzen – wie viele Jahre zuvor in Ladakh, als ich mich auf dem weiten, mit Steinen übersäten Landstück vor dem Kloster Tikse niederliess und den einzigartigen Blick auf das auf einem Hügel liegende Kloster in mich hineintrank, ruhig atmend, meditierend. Ein Ewigkeitsmoment – wie jetzt wieder in den Gelben Bergen. Man ist beim Reisen nie an einem einzigen Ort, sondern immer in einem aus vielen Orten zusammengesetzten Raum.

«Das alles weiss ich»

Am dritten Tag herrschte morgens dicker Nebel, und mein Begleiter führte mich auf neuen Wegen durch das Berglabyrinth. (Es gab nur Wegweiser in chinesischer Sprache. Dafür viele Fremdenführer für ein paar Ausländer.) Nie und nimmermehr würde ich den Weg allein gefunden haben. Manchmal lichteten sich die Nebelwolken, und die Umrisse einer Felsformation mit Kiefern traten in Erscheinung und schwammen gleich wieder davon. Oder sie gaben den Blick frei auf einen tiefen Taleinschnitt oder auf einen Gipfel, der unbeschreiblich hoch über mir lag.

Am Nachmittag regnete es in Strömen. Die chinesischen Eintages-Touristen zogen krachend in gelben und roten Regenschutzmäntel vorbei, ich blieb im Hotel, trank Tee, las Jean-Paul Sartres Roman «Der Ekel» und schaute aus dem Fenster dem Regen zu. Das alles weiss ich, wollte ich an dieser Stelle schreiben. Der Aufenthalt in den Gelben Bergen war in diesem Augenblick die Vergewisserung meines Seins. Das Reisen ist mein Cogito. Aber vielleicht streiche ich diese Stelle in der nächsten Fassung. (Hier bleibt sie.)

Am vierten Tag reichte es am Morgen für einen letzten sportlichen Spaziergang, kurz vor Mittag traten wir die Rückreise nach Shanghai an. Ich wusste nicht, wie dankbar ich sein musste, einen viertägigen Aufenthalt gewählt zu haben. Unvorstellbar, was ich verpasst haben würde, wenn ich es nicht getan hätte.

Auf der Fahrt zum Flugplatz in Tunxi wurde Halt gemacht. Ich bekam Froschschenkel vorgesetzt, die ich nicht mochte, aber tapfer verzehrte, während die Begleiter interessiert um mich herum standen, mir beim Essen zuschauten und irgendein Zeichen des Entzückens von mir erwarteten, das ich ihnen nicht geben konnte. Für sie wären diese kümmerlichen Dingerchen ein Leckerbissen gewesen. Aber unerreichbar, unerschwinglich.

Abends in Shanghai

Die Fahrt mit dem Taxi vom Stadtflughafen in Shanghai zum Hotel führte abends um zehn Uhr über mehrstöckige Autobahnen, durch enge, tief eingeschnittene Strassenschluchten, vorbei an Wolkenkratzern, die mir jede Erinnerung an das soeben Gesehene in den Gelben Bergen aus dem Kopf auszuräumen drohten. Es war eine surrealistische Schreckensfahrt, ein höllischer Trip durch eine Science-Fiction-Filmlandschaft, die ich auch nie mehr vergessen werde, aber aus ganz anderen Gründen als die Gelben Berge.

Vom Hotel aus machte ich mich in die Stadt auf. Ich war hungrig und hatte seit den Froschschenkeln nichts mehr gegessen. Die Nanjing Donglu war mit Marmor belegt, die vornehmsten Geschäfte lagen hier, Reklamelichter erleuchteten die Strasse taghell, und auf riesigen Displays wurden die Börsenkurse angezeigt. Supermärkte waren geöffnet, es herrschte Hochbetrieb. Ich hatte durch ein kleines Zeitfenster einen Ausschnitt der Zukunft gesehen – diesen Satz lasse ich definitiv so stehen.

Ich suchte ein Lokal, aber es gab weit und breit kein passendes. Eine Kentucky-Fried-Chicken-Bude hätte ich aufsuchen können, im ersten Stock in einem Haus, in dem im Erdgeschoss ein McDonald‘s untergebracht war, wenn ich mich recht erinnere (vielleicht war es auch umgekehrt und der McDonald‘s lag im ersten Stock). Das wäre kein Kunststück gewesen, aber das wollte ich nun wirklich nicht.

Schliesslich fand ich ein verstecktes kleines italienisches Restaurant. Nun ja, wenn es sein musste. (In Italien gibt es chinesische Restaurants, also bitte.) Ich ass einen Teller Spaghetti , trank ein Glas Valpolicella und versuchte verzweifelt, die Erinnerungen an die Gelben Berge festzuhalten, damit sie mir in dieser total fürchterlichen wie total futuristischen und total exaltierten, ausser Rand und Band geratenen, überbordenden, hinreissenden, phantasmatischen Alptraumstadt nicht davon fliegen würden und abhanden kämen.


Alle Fotos der folgenden Fotostrecke:
Aurel Schmidt, Basel © 2007




Die Bergketten staffeln sich in die Tiefe und eröffnen unglaubliche Aussichten.




Wer die Gelben Berge besucht, muss sich darauf einstellen, zahllose Treppen und Stufen hinauf zu kletten und in die Tiefe zu steigen.




Bizarre Felsformationen sind überall anzutreffen. Die kleine Menschengruppe am Fuss des aufgerichteten Felsens gibt eine Vorstellung von den Grössenverhältnissen.




Treppen führen in die Tiefe. Blick in einen Abgrund.




Die Gelben Berge im Nebel. Alles scheint zu fliessen.

Von Aurel Schmidt

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Mehr über die Chinesischen Berge (d/f/e)


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