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Artikel vom 24.09.2007

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Im Fokus der Autoren

Monique

Sie wohnt in Saint-Louis und putzt in Basel und hätte eine Medaille verdient - als Mensch…

Von Martin Zingg



Saint-Louis hat viel Charme. Man muss ihn nur entdecken wollen. Unser Autor Martin Zingg jedenfalls hat Aug und Ohr für versteckten Charme! Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2007


Ausgerechnet Saint-Louis, sagt sie, sie sagt es auf Französisch. Monique wohnt in Saint-Louis, direkt an der Grenze zur Schweiz, im Elsass. Sie ist keine Elsässerin, das muss sie immer wieder betonen. Nicht, weil sie etwas gegen die Elsässer hätte, warum auch, sie lebt schon lange hier und hat sich an sie gewöhnt, aber ursprünglich stammt sie aus Nancy.

Ausgerechnet nach Saint-Louis ist sie gezogen, weil ihr Mann Maurice von hier stammt und unbedingt hier leben wollte. Und beide haben hier ihre Arbeit, hier wachsen die beiden Töchter auf, auch Moniques Geschwister hat es inzwischen in diese Ecke verschlagen. Die Mentalität sei hier anders als in Nancy, meint sie, das spüre sie immer noch, auch nach Jahren, aber dann kann sie doch nicht genau angeben, worin diese Unterschiede denn liegen. «Diskretion», meint sie, möglicherweise seien die Lothringer halt doch etwas zurückhaltender als die Elsässer, aber Beispiele wollen ihr gerade nicht einfallen, es sei eher ein vager Eindruck.

Sie hat eine Ausbildung als Krankenpflegerin absolviert. Diese Arbeit hat sie aber schon bald nach der Geburt der ersten Tochter aufgegeben, das ist zwanzig Jahre her; schlechte Bezahlung, unmögliche Arbeitszeiten. Seither putzt sie, bei einigen Schweizer Familien, viele sind es nicht, und seit bald zwei Jahren arbeitet sie auch in der Wäschereiabteilung eines Behindertenheimes, meistens an der Bügelmaschine.

In der Schweiz, das schabt an ihrem schlechten Gewissen, kann sie fast immer damit rechnen, dass man ihre Sprache versteht. Ihr Deutsch reicht gerade für das Allernotwendigste, und wenn sie ohne das Wenige auskommt, ist es ihr recht. Alle paar Monate erklärt sie mir in der Küche, beim gemeinsamen Kaffeetrinken, sie wolle nun doch endlich mal einen Kurs besuchen, das sei ja peinlich, was sage sie, que dis-je, une honte, c'est honteux, eine Schande sei das, dass sie kein Wort Deutsch könne. Und sie erklärt mir auf Französisch, dass sie ja überall verstanden werde. Es ist darum nicht anzunehmen, sage ich ihr, dass sich das je ändern wird, es gibt keinen zwingenden Grund dafür. Sie lacht. T'as raison.

Das bisschen Deutsch reicht ja wirklich für ihre Einkäufe. Ihre Möbel beispielsweise besorgt sie sich am liebsten in Deutschland. Gleich neben der Grenze, die als solche kaum mehr wahrzunehmen ist, weil man einfach so durchfahren kann, weiss sie einen Möbelladen, der Sachen führt, wie sie und ihr Mann in Frankreich bisher noch nicht gesehen haben. So schön. Und: so preiswert. Gäbe es diese in Frankreich, wären sie nie so billig, sagt sie. Über Preise weiss Monique gut Bescheid, sie vergleicht immer wieder die verschiedenen Angebote in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Die Regio ist für sie ein riesiges Einkaufszentrum.

Schokolade beispielsweise besorgt sie sich in der Schweiz, und dann nicht irgendwelche. Was sie aus dem Grossverteiler mit den preiswerten Aktionen nach Hause bringt, gibt es in Frankreich nicht. Jedenfalls nie so gut und nie so günstig. Crême fraîche hingegen holt sie in Deutschland, in Weil, im Marktkauf, dort sei das einfach preiswerter als anderswo. Gemüse und Früchte nur in Saint-Louis, aber auch da hat sie die Wahl. Und die Zigaretten besorgte sie sich früher in der Schweiz. Im Moment versucht sie allerdings loszukommen von ihrer Nikotinsucht. Seit sie fünfzehn ist, seit bald einem Vierteljahrhundert, ist sie Raucherin.

Nun hat sie ein Pflaster auf der Schulter, und in der Manteltasche eine Art Zigaretten-Surrogat, sozusagen Stroh, nikotinfrei, aber auch frei von jedem Geschmack. Ja, und weil sie nicht mehr raucht, dafür aber zunimmt, geht sie auch nicht mehr in den Grossverteiler, der kürzlich aufgekauft worden sei von einem noch grösseren Verteiler, das hat sie mitgekriegt. Dort habe sie immer stangenweise Zigaretten gekauft, und jedes Mal auch Sankt-Galler Schüblig. Den hat ihr Mann so gern. Gibt es in Frankreich nirgends, Sankt-Galler Schüblig, den wird sie ihrem Mann erst wieder besorgen, wenn sie von Zigaretten losgekommen ist, das kann noch eine Weile dauern.

Saint-Louis ist doch wunderbar gelegen, sage ich ihr einmal. Nein, das sei eigentlich kein gemütlicher Ort, sagt sie. Neulich, während sie alle vier weg waren, an einem Fest in der Nähe, seien zwei Jugendliche ins Haus eingebrochen, Fahrende. Woher sie weiss, dass es Fahrende waren? Nachbarn haben zufälligerweise beobachtet, wie die beiden Jungen in den Garten eingedrungen sind und sich mit einem Schlag die Kellertüre geöffnet haben, sie dachten, das seien vielleicht copains der beiden Töchter. Die hätten so getan, als gingen sie hier ein und aus.

Als sie das Haus wieder verliessen, hatten sie alles schnell Veräusserbare eingesteckt. Gold, Silber. Schmuck, aber auch eine kleine Medaille, die Maurice einmal bekommen hat, eine Auszeichnung; in Frankreich gibt es viele Auszeichnungen, für vieles. Gibt es das in der Schweiz denn nicht, diese Auszeichnungen? Diese Medaillen? Nein, beginne ich vorsichtig, aber auch das, so scheint mir, hat sie schnell verstanden. Les Suisses n'ont pas besoin de ça, meint sie. Dabei hätte gerade sie eine Medaille sehr wohl verdient.


Von Martin Zingg


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