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Artikel vom 11.06.2007

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Mit Schmidt auf Reisen 6

Meine Hotelzimmer

Nächte in geschlossenen Räumen und unter freiem Himmel

Von Aurel Schmidt



Zimmer in einer Lodge in Khyangjuma in Nepal auf dem Weg nach Kalla Pathar. Foto Aurel Schmidt, Basel © 2007


Von seinen zahlreichen Reisen berichtet der Basler Schriftsteller und frühere Redaktor Aurel Schmidt in einer lockeren Folge kürzerer Reisebilder. Die neue Folge enthält Erinnerungen an Hotelzimmer, die mit dem Begriff, den Schweiz-Touristen damit verbinden, nichts zu tun haben, aber in die Erinnerung eingehen, dort archiviert werden und still weiterwirken.

Auf dem Weg von Chihuahua nach Los Mochis in Mexico war vor dem Hotel an der Bahnstation auf dem Kulminationspunkt Divisadero eine Anzeige angebracht: Zimmer mit Heizung. Eine Möglichkeit zu heizen gab es tatsächlich. Ein paar Holzscheiten und eine ausgediente Konservendose mit Benzin, das wars. Ich entfachte ein Feuer im Ofen, und bald breitete sich eine bescheidene, aber willkommene Wärme im Zimmer aus. Nur leider für kurze Zeit, kaum länger als eine Stunde, aber genug, um in das kalte Bett mit der klammen Bettwäsche zu kriechen.

Im Hotel in Puebla lag auf dem Tisch ein Handtüchlein, ein Stückchen Seife und eine sparsame Rolle Toilettenpapier. Der Tisch und ein Stuhl waren das einzige triste Mobiliar. Trotzdem fühlte ich mich wohl, weil ich den Eindruck hatte, unterwegs zu sein. Ich kam abends an, packte am folgenden Morgen meine Siebensachen und reiste weiter: ein Aufenthalt in einer fremden Stadt unterwegs auf einer Reise durch die Welt. Der Aufenthalt hatte mich in keiner Weise aufgehalten.

Das Zimmer war ein transitorisches Refugium. Ich meinte, darin durch die Luft zu fliegen. Ich war da, setzte das Zimmer mit dem Universum gleich. Es war der genuine Ausdruck meines Daseins.

Manche Hotelzimmer haben Gitter vor den Fenstern, manche Flügel. Manche sind Kerker, andere eine Nusschale, in der Hamlet über die Welt nachsinnt. Manchmal lähmen sie, manchmal entführen sie ihre Bewohner in Weiten, die den Horizont übersteigen.

In einzelne Hotelzimmer zieht man sich zurück, um zu fliehen und sich zu verstecken, in andere, um aufzuatmen, sich zu sammeln und um zu sich zu kommen.

In Cuernavaca lag ich im Bett und hörte, wie draussen vor dem Fenster ein Gewitter vorbeizog und der Regen auf die Strasse prasselte. Es kam mir vor, als würde das Unwetter in genagelten Schuhen in Viererkolonne vorbeimarschieren.

Musik der Trucks nachts auf dem Highway

In einem Motelzimmer in Pierre, South Dakota, legte ich mich abends bei Ankunft erkältet ins Bett, schwitzte kräftig während der Nacht und war am folgenden Morgen beim Aufstehen wie neu geboren, als ich die Reise durch die Great Plains, die Prärien, das weite Land der Imagination, antrat.

In einem Motelzimmer in Arizona in einem Ort, dessen Name ich vergessen habe, der aber auch nichts zur Sache tut, war der Fernseher defekt. Der Besitzer konnte das Zimmer niemandem zumuten. Aber ich war müde und wollte nicht mehr weiterfahren. Zuletzt erhielt ich das Zimmer doch noch. Der Besitzer machte ein Gesicht, als hätte er sagen wollen: Aber ich nehme keine Reklamationen entgegen.

Nachts hörte ich auf dem nahen Highway die Trucks vorbeidonnern. Es war ein Klang wie Musik, wie das Vibrieren der Nacht, wie das leise Brummen und Summen und Rauschen der nächtlichen Maschine des Universum.

Ich lag im Bett, ruhig, hörte die Zeit ticken, während draussen die Welt ekstatisch zu tanzen schien.

Horrornacht in Nebraska

In einem Motelzimmer in Nebraska verbrachte ich dafür ein paar Tage später die halbe Nacht vor dem Fernseher und fragte mich danach, was mich dazu bewogen haben konnte. Vielleicht die Tatsache, dass es weit und breit nichts zu essen gab. Ich musste mit dem Auto zehn Kilometer zurücklegen, um eine liederliche Pizza zu bekommen, die so phlegmatisch über den Tellerrand hing wie die weiche Uhr auf dem Gemälde von Salvador Dali. Zeit, Zeit, Zeit. Immer die Zeit. Zuletzt ist jede Reise eine bestimmte Form des Erlebens, der Erfahrung, der Strukturierung von Zeit.

Aber warum blieb ich erstarrt vor dem Fernseher hängen mit den immer gleichen Commercials für Crackers und Peanut-Butter und den Endlosschlaufen der Nachrichtensendungen, nachdem ich vom Pizza-Trip zurückgekehrt war? Vielleicht war es auch eine Flucht vor dem Schlaf, erst recht in diesem elenden Loch, ein zweiter Trip von noch schrecklicherem Ausmass als Fortsetzung der vorausgegangenen Höllenfahrt.

Du merkst mit einem Mal in beklemmender Weise, wie der Puls in Deinen Ohren dröhnt, wie allein du bist. Die Welt hat sich verabschiedet, aufgelöst, davon gemacht, sie ist verschwunden, in die Nacht des Universums abgedriftet, und nur mit dem Fernseher bist Du wie durch eine Nabelschnur mit ihr noch verbunden.

Ausruhen, die Nacht verbringen – das ginge ja noch. Aber jetzt war es etwas anderes. Dein Ich ist, philosophisch gesprochen, mit seinem Nicht-Ich (der übrigen Welt ausserhalb von Dir) wie mit einer Auspuffanlage verbunden. Und die Frage stellt sich: Was machst Du jetzt mit Deinem Seelengebläse, Deinen wechselriemenbetriebenen Strukturidealen, Deinen antrainierten Verhaltensweisen und -reaktionen, Deinen Eingriffswerkzeugen für die Bearbeitung von persönlichen Mythologien, Deinen aufgehängten Hosen am Kleiderhaken an der Wand, die wie ungeheuerliche aufgespiesste Insekten auf Dich einwirken?

Was ist Wirklichkeit? Was muss man darunter verstehen? Hotelzimmer bilden eine Wirklichkeit. Sie sind manchmal Stationen (wie Bahnhöfe, wo alles eintrifft), manchmal Durchgänge durch innere und äussere Wüsten.

Ich kann gehen, wohin ich will, ich werde immer schon dort sein, angekommen sein, sagte ich mir, als ich mitten in der Nacht den Fernseher abstellte. (Ich war wohl schon eine Weile eingeschlafen.) Ankommen heisst weggehen, weggehen ankommen, dachte ich weiter. Ich halte mich in einem Zwischenraum auf, wenn ich unterwegs bin. Also ist... Also hat... Aber es fiel mir keine passende Schlussfolgerung ein.


Wenn die Zeit fünfminutenweise vergeht

In den Lodges in Nepal verfloss die Zeit von dem Augenblick, wenn um fünf Uhr die Dunkelheit hereinbrach, bis um sieben, halb acht Uhr, wenn der Rice with Vegetable auf den Tisch kam, quälend langsam. In Erwartung des Essens lag ich wach im Schlafsack, schaute zur Decke des Holzverschlags empor, in dem ich einquartiert war, liess die Zeit verstreichen und rettete mich mit der Vorstellung, eine Schamanenreise durch die klirrende Welt der Geisteskräfte zu unternehmen, vor dem Gedanken der individuellen Auflösung. Vor vielen Jahren habe ich einmal im Musée de l‘homme in Paris die Fotografie eines Schamanengrabes in der sibirischen Tundra gesehen, das aus einer Holzkiste bestand, die auf vier Holzpfählen aufgestellt war. Der Schlafsack erinnert mich seither an solches Grab.

Das wollte ich sagen: Dass Hotelzimmer gelegentlich, in extremen Fällen, etwas von einem Sarg haben können.

Zum Lesen war es in der Lodge zu dunkel, und die Gäste, die Karten spielten und Bier tranken, das Träger tagelang heranschleppen mussten, waren keine inspirierende Gesellschaft. So blieb mir nur die Aussicht, die Stunden in Zeiteinheiten von fünf oder zehn nicht vergehenden Minuten zu zählen und die bevorstehende Nacht durchzuhalten, beim erlösenden Gedanken, dass ich morgen durch die strahlende Himalaja-Landschaft meines Wegs weiterziehen würde.

Weiterziehen. Auf dem Weg sein. Den Sinn des Lebens im Gehen erfahren, voller Überschwänglichkeit, voller Enthusiasmus. Auch voller Kraft und Entschlossenheit. Aber bis es so weit sein würde, musstest Du erst noch, dachte ich, die Prüfung der Nacht durchstehen.

Der Weg nachts über Stock und Stein mit der Taschenlampe zum Scheisshaus hinter den Lodges in Nepal gehört mit zum Programm des Reiseabenteuers. Leider bildet es jedoch selten ein Thema, über das gesprochen wird. Obwohl das Menschsein hier am deutlichsten auf den Punkt gebracht ist.

Ich schrieb jeden Gedanken, der durch das Glashaus meiner Einfälle trieb, auf, atmete konzentriert ein und aus, spürte, wie die Zeit durch mich hindurch floss, und versuchte, den Space Shuttle meines Körpers durch die einbrechende Dämmerung und beginnende Nacht zu steuern und den Abend wenigstens bis um halb sechs, oder sechs Uhr auszuhalten, wenn die Kälte sich schon in die Kleider geschlichen hatte und der Ofen in der Mitte des Raums endlich angeheizt wurde, sich etwas Wärme ausbreitete und der Yakdung einen milchigen Rauch verbreitete.

Zwischenlandung in Phaplu

In Phaplu konnte ich nachts nicht schlafen, las «Der letzte Mohikaner» von James Fenimore Cooper, passend oder unpassend für den Ort, und dachte an eine Frau, die nicht mitgekommen war, weil sie die Mühsalen des Reisens nicht auf sich nehmen wollte. Reisen ist immer, richtig verstanden, eine ebenso anstrengende wie einsame Unternehmung, eine existenzielle Selbsterfahrung gegen den Widrigkeiten des Lebens.

Phaplu in Nepal war nicht mein Ziel gewesen. Dass ich trotzdem hier ankam, hatte damit zu tun, dass die Twinotter wegen Nebels in Lukla nicht laden konnte und nach Phaplu ausweichen musste. In zwei, drei Stunden sollten wir weiterfliegen können, meinte der Pilot, aber nach fünf Stunden kehrte die Maschine leer nach Kathmandu zurück. An eine Wetterbesserung war nicht zu denken.

Mir fiel die Reisegesellschaft ein, die James Hilton in seinem Roman «Der verlorene Horizont» beschrieben hat. In dem Buch gelangt eine kleine Gruppe von Menschen in ein geheimnisvolles Kloster jenseits unüberwindlich erscheinender Bergketten und wird dort von einem merkwürdigen Klostervorsteher aufgehalten und an der Weiterreise gehindert, bis die Reisenden schliesslich selbst das Heft in die Hand nehmen.

Den Rest des Tages und die Nacht verbrachte ich in Phaplu. Am folgenden Tag stand der Fortsetzung der Reise nichts mehr im Weg.

Die letzten Seiten des Buchs «Der letzte Mohikaner» las ich in einem Resort in Nagarshot. In der Ferne hätte ich bei guter Wetterlage die Himalaja-Kette sehen müssen, aber Wolken verhängten die Aussicht. Es gab keine Fernsicht, nur das Buch von Cooper. Viele Jahre früher in Oaxaca verbrachte ich Tage und Nächte im Hotel Francia auf dem Bett liegend mit der Lektüre des Romans «Landschaft in klarem Licht» von Carlos Fuentes. Das Buch war der denkbar idealste Reiseführer. Ich hatte Mexico besser kennengelernt als auf jede andere Art.

(Notieren: Fremde Hotelzimmer sind fabelhafte Orte, um sich in Bücher zu verkriechen.)

Arktis, Savanne, Wüste

Die schrecklichste Nacht meines Lebens verbrachte ich in einem Zelt am Padlee Lake auf Baffin Island in der kanadischen Arktis. Ich war mit meinem Freund Karl-Heinz Raach und einigen Leuten aus Qikiktarjuaq zum Lachsfischen gegangen.

Am Abend, nach sechs Stunden auf dem Skido, hatten wir ein Zelt aufgestellt. In der Nacht fiel das Thermometer auf unter Null, und es zog ein Schneesturm auf, der 24 Stunden wütete. Karl-Heinz und ich sassen im Zelt. Draussen tobte das Unwetter, während wir auf dem Coleman-Kocher eine Suppe zubereiteten, Crackers assen und – warteten. Warteten, dass die Zeit vergehen und der Sturm sich verziehen würde. Warteten, bis eine Wende eintreten würde.

Eines der unvergesslichsten Hotelzimmer war ein Zelt in der afrikanischen Savanne im Selous Game Reserve. Nachts ertönte das Konzert der Tierstimmen, anhand derer ich, im Schlafsack liegend, versuchte, den Raum zu strukturieren. Aus welcher Richtung kamen die Stimmen? Wie weit weg waren sie? Der Raum ist auch ein akustischer Raum, ein Geräuschraum, der mit dem Hörsinn zur Kenntnis genommen werden muss. Besonders nachts, und in der Wildnis erst recht.

Am wunderbarsten jedoch sind die Nächte in der Wüste, in Algerien, in der Taklamakan. In der Messak-Wüste in Libyen machten Abdou und Ahmed jeweils am späten Nachmittag nach anstrengender Fahrt über die Hammada Halt und suchten einen passenden Platz «pour faire hôtel» (wie Abdou sagte; er war ein Französisch sprechender Targi). Wenn wir anhielten, suchten Jörg Mollet und ich einen passenden Platz, um die Matratze im Sand auszulegen. Die Nacht verbrachten wir im Schlafsack unter dem Sternenhimmel.

In die Messak-Wüste waren wir wegen der Felszeichnungen gereist. Es sind hoch bedeutende Zeugnisse einer uralten archaischen Kunst. Drei Wochen verbrachten wir ohne Dach über dem Kopf, tagsüber einer unerbittlichen Sonne ausgesetzt, nachts unter einem Sternenhimmel liegend, der so tief gehängt schien, dass man mit ausgestrecktem Arm danach hätte greifen können. Auch das ist eine Erfahrung: Leben ohne Wände, Türen, Fenster, Dächer. Die Küche ist eine offene Feuerstelle im Sand. Für den stark gesüssten Tee ist Akazienholz, das von weither mitgeschleppt wird, am besten geeignet.

Die Zeit zwischen sieben und acht Uhr, während der die Nacht sich über der Wüste herabsenkt und Abdou das Nachtessen zubereitete, verbrachte ich in Gedanken. Eigentlich dachte ich gar nichts. Die Zeit floss dahin, eine beruhigende Erfahrung. Die Dunkelheit verringert den horizontalen Raum auf wenige Schritte im Umkreis, das Hervortreten der Sterne erweitert den vertikalen Raum in eine überwältigende Dimension.

Stationen einer Biografie

Die Erde schwebt im Raum, und Du schwebst auf der Erde. Das Gewicht der Welt ist weggefallen. Nirgends ein Halt. Die Grenzen des Raums sind aufgehoben. Nur der Herzschlag bleibt als Grunderfahrung des Lebens.

An diesem Punkt hören alle Erfahrungen auf. Die Reise geht in eine andere Dimension über. Es ist, als hättest Du die materielle Kondition des Lebens aufgegeben und seist in einen anderen Aggregatszustand getreten. Eine Grenze ist überschritten, und das irdische Leben liegt wie abgeschlossen hinter Dir. Vor Dir schliesst sich die Ewigkeit auf. Es kann Dir nichts mehr widerfahren. Du bist aller Fatalität enthoben.

Die Hotelzimmer sind Stationen meiner Biografie. Die Geschichte meiner Hotelzimmer ist die heimliche Geschichte meines Lebens.

Nur eine Frage stellt sich jetzt noch. Wo wird das letzte Hotelzimmer stehen? Wie wird es ausgestattet sein? Wird es ein Schild mit dem Aufdruck «Exit» haben und wohin wird die Tür, wenn es eine gibt, führen?

Von Aurel Schmidt


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