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Artikel vom 10.11.2009

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Elsass - Allgemeines

Mit Video auf YouTube (Link am Schluss)

Vorbild Durmenach

Was das Sundgaudorf der Welt zu sagen hat

Von Jürg-Peter Lienhard



Die Namen der zivilen Opfer der Shoa auf derselben Stele: 17 Juden und zwei Zigeunerkinder. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Die Schweizer Juden stammen grösstenteils aus dem Sundgaudorf Durmenach, das am Sonntag, 8. November 2009, als erste französische Gemeinde die Namen seiner zivilen Shoa-Opfer, darunter zwei Zigeuner-Buben, am Monument aux morts anbringen liess. Zudem ist vor der früheren Synagoge ein Gedenkstein im Andenken an die bedeutende jüdische Gemeinschaft, die seit dem 15. Jahrhundert in Durmenach entstanden war, aufgestellt worden. An der Einweihungsfeier nahmen Juden und Zigeuner teil, wobei die Ansprache des Zigeuner-Vertreters grosse Betroffenheit und Rührung weckte, weil er daran erinnerte, dass immer noch kaum wahrgenommen wird, dass die Deutschen rund eine Million Menschen aus seiner Bevölkerungsgruppe ermordeten, und die Zigeuner noch heute nirgends in der christlichen Gesellschaft vor Verfolgung und Diskriminierung sicher sind.



Einzigartig und vorbildlich für ganz Frankreich: Am Gefallenendenkmal von Durmenach sind nun auch die Namen der zivilen Opfer der beiden Weltkriege und der Shoa angebracht. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009

Die enorm gut besuchte und respektheischende Zeremonie vor dem Gefallenen-Denkmal von Durmenach erlaubte keinen Applaus bei den zahlreichen Reden vor der Enthüllung der beiden Stelen mit den Namen der zivilen Opfer der Weltkriege und der Shoa. Das hatte der Initiant, Oberst Michel Buecher, zu Beginn des Protokolls dem Publikum angesagt. Doch als Marcel Rosino Hoffmann als Sprecher der Zigeuner nach vielen anderen Rednern aus jüdischen und offiziellen Kreisen an der Reihe war und seine Ansprache beendete, brach spontaner und anhaltender Applaus aus.

Hoffmann sprach nicht wie die anderen Redner per Manuskript, sondern frei und buchstäblich von der Seele weg und mitten in die Herzen der Anwesenden. Der Mehrheit musste aufgegangen sein, wie wahr seine Aussagen und wie verzerrt das Bewusstsein der Öffentlichkeit gegenüber dem Unrecht ist, das an den Zigeunern begangen wurde und begangen wird. Er endete denn seine Ansprache mit dem Satz: «Dies musste hier gesagt werden!» (Mehr dazu weiter unten.)

Durmenach war seit dem 15. Jahrhundert, als Spaniens Johanna die Katholische die multikulturelle arabisch-jüdisch-christliche Hochkultur von Granada im Süden Spaniens mit dem ersten europäischen Pogrom zerstörte, eine der elsässischen Gemeinden, die die Judenflüchtlinge aus Südeuropa aufnahmen. Die Gemeinde prosperierte, stellte gar mit Aaron Meyer im 19. Jahrhundert einen allseits geachteten Bürgermeister an die Spitze seiner gemischt christlich-jüdischen Einwohner. Bis allerdings im Februar 1848 der sogenannte Judenrumpel stattfand - übrigens dem letzten Pogrom in Frankreich.

Die christliche Bevölkerung revoltierte gegen die Juden, die durch Geldverleih manch einen Landmann arg in die Zinspflicht nahmen, auch wenn heute feststeht, dass dies meist nur der fadenscheinige Vorwand war, um im Pariser Revolutionsjahr sich aus den eingegangenen Verpflichtungen zu stehlen und den Besitz der Juden zu plündern. Zwei zeitgenössische Bilddokumente belegen die wüsten Szenen, die sich dabei abgespielt haben: Mob und Pöbel mit Sack und Pack aus Diebstahl beladen oder übel kotzend neben geraubten Weinfässern.

Doch den schlimmsten Schaden richteten die Wüteriche an den Dächern der Judenhäuser an, deren Ziegel sie auf die Strasse warfen: Ein Fachwerkhaus ohne Dach ist der Witterung ausgesetzt, was ebenso zerstörerisch ist, wie ein Brandfall. Den vermieden sie tunlichst, weil sonst auch ihre eigenen Häuser gefährdet hätten werden können…



Einmarsch zum Gottesdienst unter Fahnenspalier der Ancien combattants. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Nach diesem Judenrumpel zogen es die meisten derart obdachlos gewordenen Juden vor, aus Durmenach auszuwandern. Sie fanden Aufnahme in Delsberg oder in der Stadt Basel, wo schon 1860 die noch heute bestehende Synagoge an der Eulerstrasse gebaut wurde. Von Basel aus zogen einige weiter ins Innere der Schweiz, wo man noch 1870 in Zürich dem Vorfahre von Jean-Luc Nordmann, Direktor des eidgenössischen Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), sein Niederlassungsgesuch abschlägig beantwortete, mit der Begründung, man habe «schon einen» - einen Juden…

Wenngleich die Ausschreitung in Durmenach die schlimmste und einzige in der nachrevolutionären Zeit war, blieben die Judengemeinschaften im Sundgau weitgehend unbehelligt - zumal in Waldighofen, wo der elsässische Nationaldichter Nathan Katz geboren worden war, ebenso in Hegenheim mit seinem noch heute von den Basler Juden unterhaltenen grossen Judenfriedhof.



Der Curé François Liechtlé zuletzt… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Der Friede im Elsass blieb zwar vorerst gewahrt, auch wenn die Judenfeindlichkeit anhielt und mit der Affäre von 1870/71 um den aus der Société Industrielle von Mülhausen stammenden französischen Generalstabs-Offizier Alfred Dreyfus einen traurigen Höhepunkt erreichte.

Als der Justizskandal 1906 mit der Rehabilitation Dreyfus sein Ende fand, hatte auch im deutschen Kaiserreich der Antisemitismus längst Fuss gefasst, obwohl das Reich zuvor die rechtliche Gleichstellung der Juden gewährt hatte. Ein (dummer) Journalist prägte den Begriff, der, anders als die «blosse Judenfeindlichkeit» im Elsass, nun die Juden als «Rasse» wahrnehmen wollte, unterstellte ihnen Verschwörungsabsichten und liess das Gift der pseudowissenschaftlichen «Rassenlehre» in die europäische, nicht nur, aber vor allem in die deutsche Gesellschaft einfliessen - bis zur Katastrophe, von der wir alle wissen.



Die Dorfkirche war gerammelt voll. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Der Basler Historiker Daniel Gerson hat über den Judenrumpel von Durmenach seine Lizentiatsarbeit verfasst («Die Ausschreitungen gegen die Juden im Elsass 1848») und nach seiner Doktorarbeit in einem erweiterten Buch mit dem Titel «Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848» eingebunden.

Wie tief der Giftsporn des rassistisch motivierten Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft schon verwurzelt war, längst bevor Hitler an die Macht kam, bevor er seinen schweinsledernen Knabenhosen entwachsen war, kann man in der Historikerin Brigitte Hamms Buch «Hitlers Wien» nachlesen, wo in der ersten Häfte noch einigermassen nachvollziehbar geschildert wird, unter welchen armseligen Bedingungen Hitler aufwuchs und später in Wien als armer Schlucker ein Unterhundeleben führte.



Der «Kirche-Schwyzer» - eine absolute Respektsperson in der Kirche in traditioneller Aufmachung. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Doch in der zweiten Hälfte dieses akribisch recherchierten und gut 500 Seiten umfassenden Werkes, schildert Brigitte Hamm Seite um Seite die Körperschaften, Medien, «Einzelmasken» und sonstwelche irren Repräsentanten, die sich «völkischer» und antisemitischer Themen verschrieben hatten. Selbst wer doch einigermassen die deutsche und österreichische Geschichte kennt, muss mit ungläubigem Erstaunen lesen, welche enorme Massen antisemitischer Körperschaften in den deutschen Landen fleuchten und kreuchten und mit ihrem Hass in den «Sieg-Heil»-Geifer einstimmten, bis die Schornsteine von Auschwitz und den vielen KZs unaufhörlich zu rauchen begannen.



So ging man im Sundgau vor nicht allzu ferner Zeit zur Sonntagsmesse: Die typischen Sundgauer-Trachten haben nur eine weisse und oft reich bestickte Haube. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Aus diesem Grund ist die Erinnerung eine Pflicht zur Friedenssicherung. Wenn man um diesen Nährboden weiss, auf dem zwar schleichend, aber unaufhaltsam der Rassenwahn seinen Lauf im aufgeklärten Europa nahm, dann ist schon ein Teil der Wiederholung erschwert. Erst recht, wenn man sich vor Augen hält, dass den Juden allein «zahlenmässig» mit sechs Millionen Ermordeten am meisten Unrecht geschah, aber wenn man die ebenfalls aus «rassistischen» Gründen verfolgten weiteren Menschengruppen mitrechnet, die willentlich in Lagern oder bei «Säuberungen» umgebracht, vergast, erschossen und sonstwie zutodegebracht wurden - nämlich Zigeuner, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, geistig und körperlich Behinderte sowie die von den Nazi-Rassenwahnsinnigen als «Untermenschen» bezeichneten Russen und «Bolschewiken», so kommt man auf die unvorstellbare Zahl von zwölf Millionen Holocaust-Opfern.

Bei den «aktuellen» Holocaust-Leugnern fällt auf, dass sie stets auf den «sechs Millionen Juden» beharren. Es geht ihnen allein um die Juden. Allerdings nicht aus «rassistischen» Gründen, denn mit Bezug auf die Nazi-Rassenlehre wären da einige von ihnen wohl auch «Untermenschen». Nein, Ahmedinedjad, Gaddhafi und wie die gefährlichen Diktatoren alle heissen - ihnen geht es aus politischen, manipulatorischen anti-israelischen Gründen um die Leugnung des Holocaust an den Juden…

Oder haben Sie von Ahmedinedjad je gelesen, dass er die Ermordung von Homosexuellen, von Zeugen Jehovas, von körperlich und geistig Behinderten, von Zigeunern durch die Nazis je geleugnet hätte?



Nicht alle Zigeuner mochten zur Messe gehen, obzwar alle tiefgläubige Katholiken sind. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Die Shoa-Opferzahlen auseinanderzudividieren und einzelne Bevölkerungsgruppen zahlenmässig hervorzuheben, ist nicht nur höchst unfair, sondern gibt den Leugnern Auftrieb, lässt verkennen, welche Dimensionen das deutsche Verbrechen hat: Es ist ein furchtbarer Angriff auf die zivilisierte Welt gewesen und hatte nichts Minderes als die Ausrottung der fruchtbaren Vielfalt abendländischer Kultur zum Ziel!

Die Erinnerung daran ist für alle Menschen mit Horizont Pflicht, weil nur mit dem Wissen um diese Vergangenheit das Bewusstsein für die Notwendigkeit der gegenseitigen Achtung «anderer» Bevölkerungsgruppen und Angehöriger religiöser Minderheiten wachgehalten bleibt. Die Geschichte lehrt, dass sie sich stets wiederholt - wenngleich in jeweils einem «zeitgemässen» anderen Gewand.



Aufstellung nach dem Gottesdienst für den Umzug zu den Gedenkplätzen. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Der Literaturnobelpreisträger von 2002, Imre Kertész, selber Häftling in Auschwitz gewesen, hat vor seinem am Montag, 9. November 2009, bevorstehenden 80. Geburtstag in einem Interview auf die Frage, was man vom Holocaust lernen könne, geantwortet: «Ein Bewusstsein. Niemals darf eine Gesellschaft, niemals darf die Politik wieder eine ähnliche Situation zulassen. Und wenn es Anzeichen dafür gibt, müssen Alarmsirenen heulen. Aber schauen Sie sich die Finanzkrise an. Eine Finanzkrise war auch der Ausgangspunkt der Machtübernahme Hitlers. Der Holocaust hat keine Wirkung mehr auf das Bewusstsein der europäischen Politiker, sonst wäre es jetzt nicht so weit gekommen.»

Und auf die anschliessende Frage, ob man denn bei allen zukünftigen Ereignissen den Holocaust mitdenken soll, sagte er: «Sollen? Man muss! Ich habe mal geschrieben, dass Auschwitz jederzeit möglich ist, weil das, was Auschwitz ermöglicht hat, nicht verschwunden ist.»



Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Voilà! Durmenach hat es begriffen - schon Monate vor dem 80. Geburtstag von Imre Kertész: Am 7. Mai 2009, am Vorabend der Feierlichkeiten zum 64. Jahrestag des Waffenstillstandes 1945 beschloss der fast vollzählig versammelte Gemeinderat unter seinem Maire Dominique Springinsfeld, die Erinnerung an die schicksalsschweren Momente der Gemeinde und ihrer Mitbrüder und -Schwestern mit der Aufstellung der Namens-Stelen mit den zivilen Weltkriegsopfern und des Gedenksteines des Judenrumpels vor der ehemaligen Synagoge und jetzigem Gemeindesaal wachzuhalten.

Der Bürgermeister und sein Gemeinderat folgten der Idee von Oberst Michel Buecher, der als Verfasser des Buches «Le devoir de mémoire» zur Geschichte von Wolschwiller im Zweiten Weltkrieg, eben auf viele dem Vergessen anheimfallende Ereignisse aus der bewegten Geschichte dieses kriegerisch stets so gebeutelt gewesenen Sundgaus stiess und sie wieder ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken sich anschickte (webjournal.ch berichtete mehrfach).

Zweifellos ist es immer besser, Geschichte in Erinnerung zu behalten, statt sich von der Geschichte einholen zu lassen…

Der Oltinger Ofensetzer Christian Fuchs jedenfalls weiss von seinem Vater, der aus Eguisheim stammt, dass das malerische, weltberühmte Weinbauerndorf schon vor dem Einmarsch der Nazideutschen von den ansässigen Elsässern (!) «judenfrei gemacht worden war»: Mit den «eigenen» Juden wurden Tage vor der Annektierung des Elsass «abgerechnet»; immerhin blieb ihnen das Auschwitz-Schicksal «erspart», wenn man von der zwangsweisen Vertreibung absieht… Ob Eguisheim unter seinem gotischen Brunnen mit der Steinfigur des einzigen elsässischen Papstes Leo IX. auch einen Gedenkstein aufstellen, vielleicht gar die Namen der vertriebenen Juden am Momument aux morts anbringen wird - wer weiss, ob Durmenach auch für dieses reiche, touristische, stark von Deutschen besuchte Weindorf dereinst Vorbild wird?



Bürgermeister Dominique Springinsfeld (links) und Ivan Geismar als Vertreter der oberelsässischen jüdischen Gemeinden enthüllen die Gedenktafel vor der früheren Synagoge. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Die Papst-Statue ist das Stichwort für die Ansprache des Zigeuners Marcel Rosino Hoffmann. Der braugebrannte, kleine Mann wirkte hinter dem Rednerpult im Schatten des Party-Zeltes, das die Rednerbühne mit den Mikrophonen vor etwaigem Regen beschützen sollte, im ersten Moment ziemlich unscheinbar. Auch seine Sprache war weit davon entfernt, dem theatralischen Gestus und der schwungvollen Betonung seines Vorredners, dem Député-Maire von Altkirch, Jean-Luc Reitzer, nachzuleben.

Ganz ruhig ergriff er das Wort, ohne Manuskript, aber er drehte sich ständig halb um zu den hinter ihm aufgestellten Notabeln - als gelten seine Worte vor allen ihnen… Er sagte, dass die Kultur der Zigeuner durch die sorgfältige Pflege und Weitergabe der Erlebnisse der Ahnen lebendig bleibe. Jede französische Zigeuner-Familie hat Angehörige in Auschwitz verloren - einer Million seiner Brüder und Schwestern wurden von den Deutschen das Leben gewaltsam entrissen. Was man über sie weiss, zumindest über ihre letzten Momente, bevor sie «abgeholt» wurden, das ist der Erinnerungsschatz der Zigeuner. Und sie wissen: «On est jamais sur de son abri!» - der Zigeuner kann nie sicher sein des Schermens, unter dem er sich befindet.

Ausgedeutscht heisst das ganz genau dasselbe, was Imre Kortész im oben erwähnten Interview auch sagte: «…dass Auschwitz jederzeit möglich ist, weil das, was Auschwitz ermöglicht hat, nicht verschwunden ist.» Dies betrifft indes zuerst die Zigeuner; sie werden meist lediglich als üble Randständige, Ausgestossene, Unangepasste wahrgenommen und oft verjagt, aber zumindest scheel angeschaut, wenn nicht gar offen diskriminiert.



Marcel Rosino Hoffmann bei seiner bewegenden Ansprache am Monument aux morts. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Das Zigeunerleben ist keineswegs lustig, aber die Zigeuner haben etwas, was zu ihnen gehört, wie die dreifaltige Krone des Papstes: Es ist ihre Musik, sagte Marcel Hoffmann stolz, der sesshaft gewordene Verwandte in Langenthal hat und als Fahrender eben auch deutsch spricht. Die Musik habe seinem Stamm denn auch das Leben gerettet, hat ihm seine Mutter erzählt. Es war, als seine Familie im Norden Frankreichs um ein Lagerfeuer zusammensass und Musik machte. Auf einmal wurden die Angehörigen des Stammes gewahr, dass sie von deutschen Soldaten umzingelt waren.

Der befehlshabende Offizier fragte, ob sie denn auch Wagner spielen könnten - Hitlers Lieblingsmusik notabene. Und die Zigeuner spielten mit tiefster Inbrunst diese begnadete Musik, so dass der Deutsche danach sagte, sie würden tags darauf gefangengenommen, wenn sie blieben. So rettete die Musik, ausgerechnet die Musik des Antisemiten Wagner, die Zigeuner vor dem sicheren Tod.

Marcel Rosino Hoffmann fügte an diesen Teil seiner Erzählung an, dass es für ihn ein Zeichen dafür sei, dass es selbst unter den unmenschlich handelnden fanatischen Deutschen mitunter einen mit einem Funken Anstand gab. Die Erzählung und die Bemerkung verblüfften, denn sie widerspiegelten urchristlichsten Sinn, schon allein wie der Redner bescheiden der Geschichte Ausdruck gab. Welche Gnade: So hatte man schon lange nicht mehr zugehört!

In Sachen Anstand im Herzen hatte Hoffmann gegenüber seinen Landsleuten im Vichy-Frankreich keine Anekdote, die nur im geringsten erwähnenswert war. Im Gegenteil: die Vichy-Franzosen waren die schlimmeren Zigeuner-Jäger als die Nazis selber, erzählten seine Ahnen. Für sie sei dies um so beschämender gewesen, da jeder Zigeuner in dem Land, das seine Heimat ist, denselben Stolz empfindet, wie die anderen Einwohner auch.

Während man von den grossen Opfern der Juden im Holocaust spreche, gehe nur zu oft unter, dass die Zigeuner selber Christen seien. So habe Papst Johannes Paul II. sich gegenüber den Juden für die Haltung der Kirche im Naziterror entschuldigt, aber nie je ein Bedauern oder Pardon dafür geäussert, dass Christen andere Christen, eben Zigeuner, umbringen liessen.

«Was ihr dem Geringsten unter Euch angetan, das habt ihr mir angetan» - ist das nicht der Kernpunkt der christlichen Lehre?

Die einfache Rede Hoffmanns, die gerade deswegen direkt mitten in die Herzen der Zuhörer traf, war voll von Botschaften zwischen den Zeilen. Sie kamen an, bewegten und waren gleichwohl so etwas wie eine ausgestreckte Hand, auch wenn Hoffmanns letzter Satz hiess: «Das musste einmal gesagt werden!»

Hoffmanns Erzählungen gaben dem Gedenkanlass eine unerwartete Tiefe; die mehreren hundert Teilnehmer aus halb Europa jedenfalls waren einhellig derselben Meinung.



Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Überhaupt war der Gedenkanlass über seiner ganzen Länge von morgens um halb neun und bis zu seinem «offiziellen» Ende gegen vier Uhr nachmittags eine anhaltend feierliche Zeremonie. Sie begann mit einem Gottesdienst in der Dorfkirche, wo die Teilnehmer an einem Spalier der Fahnenträger der anciens combattants ins Gotteshaus schritten, wobei die eingeladenen Juden an der Messe aber nicht teilnahmen. Sie versammelten sich vor der früheren Synagoge, die nach einem Brandfall nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gemeindesaal umgebaut worden war. In Durmenach gibt es seit dem Kriegsende aber keine Juden mehr.

Vor dieser ehemalige Synagoge weihten die Gäste einen Gedenkstein mit einer Gedenktafel ein (Text und Übersetzung siehe untenstehender Link). Danach bewegte sich die vielhundertköpfige Teilnehmerschaft - viele darunter in elässsischen Trachten oder in militärischen oder Feuerwehr-Uniformen angetan - zum unweit befindlichen Monument aux morts. Links und rechts des Gefallenen-Denkmals waren zwei gut zweieinhalb Meter hohe schlanke Stelen aufgestellt. Zunächst mit der Trikolore bedeckt, dann aber mithilfe vom Unterpräfekten und vom Bürgermeister Springinsfeld enthüllt. Es gab einen Fahnenaufzug mit Clairon-Klängen und Ansprachen des Sous-Préfets, des Député-Maire, des Bürgermeisters, des Rabbis und des Zigeuner-Sprechers. Im Anschluss daran sangen die Juden das Totenritual, angestimmt vom Kantor.





Für jedes zivile Opfer eine Grabkerze - jeweils dargebracht von Verwandten und Nachkommen. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009



Um ganz sicher zu gehen, falls trotz aller sorgfältigster Recherchen gleichwohl ein Name verloren ging: «A toutes les victimes oubliées - Für alle vergessenen Opfer». Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Darauf kamen die wohl ergreifendsten Momente, als die Namen der zivilen Opfer auf den beiden Stelen verlesen wurden - auf der linken Stele die Zivilopfer des Ersten Weltkrieges und auf der rechten diejenigen der Shoa. Die meisten der Opfer hatten überlebende Familienangehörige. Beim Aufrufen der Namen traten die Angehörigen mit einer Kerze vor und begaben sich zum Monument, wo sie das Totenlicht auf den Brunnenrand stellten. Links 28 Lichter für 28 Opfer des Ersten Weltkrieges, rechts 19 für die Opfer der Shoa - 17 Juden und zwei Zigeunerkinder.

Eine Kerze für ein Kriegsopfer aus dem Ersten Weltkrieg trug ein 86-jähriger, aber gleichwohl rüstiger Mann mit schlohweissem Bart: Es war der in Basel und in den Basler Künstlerkreisen seinerzeit rund um die alte Hasenburg bekannte Journalist Edi Wahl, erster Redaktor im Büro Basel des Blick. Seine Familie stammt aus Durmenach. Er wohnt aber in Brissago im Tessin, wo er via Internet auf den Artikel auf webjournal.ch «Durmenach beispielhaft» vom 8. Mai 2009 (siehe Link unten) stiess und auf den Gedenkanlass aufmerksam wurde. Flugs meldete er sich für die Teilnahme mit seiner Lebenspartnerin an und freute sich sehr, dass die Neugier seines jüngeren Kollegen am Gedenkanlass ihn gewissermassen «enttarnte»…



Seine Familie stammt aus Durmenach: Kollege Edi Wahl (86) mit Lebenspartnerin Evelyne. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Übrigens nahmen 250 Juden aus der Schweiz (Kantone Genf, Jura, Basel und Tessin), Paris, Luxembourg, Grossbritannien und Miami sowie nochmals so viele Personen aus dem Dorf, dem Sundgau und dem übrigen Elsass sowie mehrere Dutzend Zigeuner aus beiden oberrheinischen Departementen teil. Die Genealogen, die sich mit dem Projekt befassten, hatten eine grosse und heikle Arbeit zu leisten, denn es galt, keines der Opfer zu vergessen - denn mitunter waren die spärlichen Informationen über die Verschleppten und Ermordeten eine richtige Ausgräberarbeit.



Maire Hubert Schertzinger aus Franken führt ein Zigeunermädchen zur Abgabe der Grabeskerze. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009




Maire Dominique Springinsfeld begleitet einen Zigeunerbub für dieselbe symbolische Geste. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009




Zum Schluss werden die Kerzen des siebenarmigen Leuchters angezündet. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Indes verdiente sowieso das von Oberst Buecher orchestrierte Protokoll hervorgehoben zu werden. Er hatte im Vorfeld mehrere Dutzend Sitzungen mit den Freiwilligen und dem Gemeinderat anbefohlen - fast scheint es, als wäre es seine Leidenschaft. Wie der Anlass in Durmenach sowie die vorausgegangenen zum Andenken an Jean de Loisy, dem Befreier des Sundgaus im Zweiten Weltkrieg zeigte, folgten seinen Aufrufen von Mal zu Mal mehr Leute, wurden die Anlässe von Mal zu Mal in der Presse breiter abgehandelt. Das Ziel, die Pflicht zu Erinnerung im Sinne der Friedenssicherung wachzurufen hat er doch wahrlich erreicht.



Colonel Michel Buecher (links in Uniform) und Maire Springinsfeld an den Rednerpulten. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Der Tag stand und steht sowieso im Zeichen des 9., 10. und 11, Novembers. Diese Daten sind untrennbar mit den Greueln der beiden Weltkriege verbunden. Nicht nur wurde am 11. der Waffenstillstand zum Ende des Ersten Weltkrieges besiegelt. Am 9. und 10. wurden mit der Reichskristallnacht von 1938 die ersten nationalsozialistischen Pogrome eingeläutet. In diesen beiden Nächten gingen über 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume in Flammen auf. Tausende von Geschäften und Wohnungen sowie Friedhöfe Deutscher Juden wurden zerstört und etwa 400 Juden ermordet oder in den Selbstmord getrieben.

Ironie der Geschichte: Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin, und es kam zur Wiedervereinigung der beiden Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten zur Friedenssicherung zweigeteilt wurde.

Immerhin schloss der Gedenktag in Durmenach sehr friedlich mit einem koscheren Bankett, bei dem es ein Choucroute à la juive alsacienne gab - ohne Speck und Rippli, aber trotzdem exzellent! Dazu spielte eine Zigeuner-Kapelle die fröhlichsten Weisen. Als sich die Tafel auflöste - die Geladenen kamen mit erheblicher Verspätung zum Bankett - war fünf Uhr beinahe vorbei…



Das koschere Bankett wurde stellenweise mit echter Zigeunermusik untermalt. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009



Marcel Rosino Hoffmann erhielt einen frenetischen Sonderapplaus beim Bankett - verdientermassen, selbstverständlich. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Viele fanden sich danach in der angebauten Bar wieder, wo allerdings nichts ausgeschenkt wurde, sondern die Dokumenten- und Foto-Ausstellung «Durmenach se souvient» eingerichtet war. Die Ausstellung lohnt sich für alle, die sich mal ein Bild über die Herkunft der Basler Juden machen wollen.

Im Vorfeld der Organisation war bald einmal klar, dass der Gedenktag eine nachhaltige Wirkung haben soll, wenn er das Ziel der Erinnerung zur Friedenssicherung erreichen soll. Die Dorfschullehrerin Sabine Drechsler nahm dies an die Hand und hat ein didaktisches Programm für die Dorfschulkinder und rund 300 Kinder des Kantons zwischen 9 und 12 Jahren auf die Beine gestellt. Diese werden selbstverständlich die Ausstellung und die Gedenkstätten besuchen, doch werden sie das Thema vertieft vermittelt erhalten. Frau Drechslers Konzept ist jedenfalls bei ihren Pädagogik-Supervisoren hoch gelobt worden.



Die Schulmeisterin Sabine Drechsler mit dem Buch «Durmenach se souvient» vor der Foto- und Dokumentenausstellung in der Bar des Festsaales von Roppentzwiller. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Information

• Ausstellung «Durmenach se souvient»

In der Salle Polyvalente de Roppentzwiller (Nachbarort von Durmenach auf der Strasse von Durmenach nach Waldighofen)

Sie ist offen jeweils Mittwoch von 10 bis 18 Uhr oder auf Vereinbarung mit Sabine Drechsler, Mobil-Telefon:


• Das Buch zur Ausstellung «Durmenach se souvient»

€uro 28.-- zu beziehen auf der Mairie von Durmenach



Auf dem Bild unten rechts ist die Foto des kurz vor dem Gedenktag verstorbenen Ethnologen und Philosophen Claude Lévy-Strauss, der am 28. November 101 Jahre alt geworden wäre und dessen Familie auf dem Judenfriedhof von Durmenach begraben ist. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009




Die «Kategorien der deutschen Mörder»: Zwölf Millionen Menschen kamen so kategorisiert um. Allein «Apatride» («heimatlos») genügte, um in die Gaskammer geschickt zu werden…


Die Rede von Marcel Rosino Hoffmann ist von einem uns unbekannten Zuschauer der Zeremonie aufgenommen und auf Youtube aufgeschaltet worden. Kopieren Sie diese URL in die Adresszeile Ihres Browsers, und Sie können die gefilmte Rede mitverfolgen:

http://www.youtube.com/watch?v=vwMTT2bMMpY&NR=1



Bestellen Sie die Fotos in hochauflösendem Format auf CD/DVD oder online. Sie können auch den Text zur Wiederverwertung freischalten lassen: redaktion@webjournal.ch

Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Artikel mit dem Text der Gedenktafel französisch und deutsch

• Diaporama auf YouTube

• Informationen zu Buch und Ausstellung (franz.)

• Les discourses du maire (en français)


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