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Artikel vom 25.01.2008

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Elsass - Wirtschaft

Mit Fotos von Pierre Dolivet, Mulhouse

200 Entlassungen bei DMC

Bald ist der «Faden» ganz abgewickelt in der einstmals gloriosen Textilstadt Mülhausen, dem «Manchester des Festlandes»

Von Jürg-Peter Lienhard



Das «rote DMC-Quartier»: Backsteinbauweise von genialer architektonischer Weitsicht. Ob die heutigen Mülhauser Stadtväter dieselbe Weitsicht, wie die Gründer-Väter haben, sei dahingestellt! Die Baukörper könnten zu genialen Wohn- und Arbeitsstätten umgebaut werden, wie z.B. in Zürich-West, mit Lofts, Ateliers und Kulturräumen…


Man hat es erwartet und sehen gekommen: Die stolzeste und die älteste Textilmanufaktur Mülhausens, die Dollfus, Mieg & Cie (DMC) entlässt erneut 200 der noch verbleibenden etwas über 1000 Mitarbeiter. Der anhaltend starke Euro gegenüber dem US-Dollar und der asiatische Billigimport, der in Europa allein in den letzten zwei Jahren um über 65 Prozent zugenommen habe, sei schuld an diesem neuerlichen Aderlass der an sich schon blutleeren Branche, begründete die Direktion die Kündigungen.

Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind nur Schreckensmeldungen als Neuigkeiten aus dem textilen Sektor des Elsass bekanntgeworden. Allerdings ging es den anderen textilen Hauptorten Europas nicht viel besser. Man denke an die Textilkrise in der Ostschweiz und im Glarnerland, die auch hierzulande Tausende von Arbeitsplätzen gekostet hat und einstmals stolze und innovative Firmen zum kompletten Aufgeben zwang.



Das weltberühmte Logo von Dollfus, Mieg & Cie: «DMC» mit dem Pferdchen.


Nicht besser, aber etwas langsamer, erging es Mülhausen. Mülhausen war bis zum Ersten Weltkrieg eine bedeutende Industriestadt - bedeutender als damals Basel! 120 Kamine rauchten in der Blütezeit des «Fadens», wie die Elsässer die Textilbranche heissen - und was alles damit zusammenhängt und -hing, von der Druckgrafik, über den Eisenbahnbau, der Farbstoff-Chemie, der Ziegelbau-Wirtschaft, der Maschinen-Industrie, den vorbildlichen Arbeitersiedlungen und der Sammlungen und Museen.

Die 120 Kamine standen jedes für eine Textilfabrik, die in der typischen Backstein-Bauweise das Bild des in vorrevolutionärer Zeit «eidgenössisch zugewandten Ortes» prägten. Heute sind sie fast gänzlich verschwunden; nur noch die Gebäude der Heilmann, Koechlin & Cie, die die Schlumpfsche Automobilsammlung beherbergen, sowie das ganz «en brique» gebaute und ein eigenständiges Quartier darstellende Areal der DMC, sind übriggeblieben. Immerhin ist im Namen des grossen Kulturhauses «La Filature» - die Spinnerei - die gloriose Mülhauser Industrie-Epoche der vergangenen beiden Jahrhunderte verewigt.



Die Gründer der DMC verstanden sich früh in der Verantwortung für die Gemeinschaft, von der sie eben auch profitierten. So spendierten die Unternehmer im Gegenzug zu ihrem grossen Wasserverbrauch der Stadt eine Wasserversorgung, die noch heute tadellos funktioniert.


Mülhausen - der Name sagt es schon -, war die Stadt der Mühlen, von denen vor der Revolution 19 entlang von Bachbetten, Kanälen und Mäandern der Thur und der Ill klapperten. Mühlen sind frühe Industrie, und es wurde nie nur Mehl gemahlen, sondern gehämmert, gestampft, gesägt, gerührt oder gepresst. Mit dem Aufkommen der mechanischen Webstühle, wurde die Wasserkraft zum bedeutendsten Antrieb; in England, zumal in Manchester, heissen Textilfabriken immer noch «Mills» - Mühlen!

Textile Manufakturen mit weltberühmtem Renommee entwickelten sich im Elsass noch in royalistischer Zeit, zu Ende des Feudalismus. Aber erst durch die Revolution wurde das eidgenössisch zugewandte Mülhausen buchstäblich von seiner Isolation befreit und hatte unvermittelt das Hinterland mit seinem Wasserreichtum und den billigen Arbeitskräften der seit der aristokratischen Unterdrückung verarmten Bevölkerung zur Verfügung.

Dadurch gelang der ehemals hugenottischen, stets nur französisch sprechenden Bürger-Kaste Mülhausens, der «Société Industrielle», eine industrielle Revolution sondergleichen, angetrieben voller Gründer-Enthusiasmus und in atemraubend kurzer Zeit. Erfindungen und Innovationen folgten sich in beinahe unwirklichem Rhythmus: Das mächtige rote Quartier mit den noch heute bestehenden Gebäuden der DMC, entstand grad nach den Revolutionskriegen von 1814 bis 1820!

Der Bauboom erforderte Baumaterialien, die als Lehm aus den tektonischen Verwerfungen des Jurameeres, wie sie zum Sundgauer Hügelland führten, gewissermassen vor der Haustüre gewonnen werden konnten. Den Boom beschleunigte aber die geniale Erfindung des Tessiners Gilardoni, der den mechanischen oder Falzziegel erfand - Backstein und Ziegel konnten fortan statt von Hand mit grossen Pressen, angetrieben von Dampfkraft, in Rekordzahl hergestellt werden.



Wo immer die Infrastruktur sichtbar wird, trägt sie das Monogramm DMC.


Die rasante Mechanisierung der Spinn- und Webfabriken erzwang den Maschinenbau, und zum Transport der Güter den Eisenbahnbau. Darum ist das nationale französische Eisenbahnmuseum in Mülhausen angesiedelt, wo um 1843 (!) die erste internationale Eisenbahnstrecke auf dem Kontinent zwischen Strassburg und Basel vor allen anderen französischen Bahnlinien gebaut wurde.

Später diente der Eisenbahnbetrieb dem Transfer von Farbchemie aus Basel, weil die synthetischen Anilinfarbstoffe aus patentrechtlichen Gründen nicht in Frankreich hergestellt werden durften. Die pfiffigen Mülhauser Textilbarone liessen sie daher einfach bei ihren Vettern des Basler «Daigs» herstellen: Voilà, die Erklärung, warum Basel heute so reich ist - weil der frühere Bedarf der elsässischen Textilindustrie an Farbenchemie eben den Grundstein zur Basler Chemie und zur späteren Pharma legte!



Die Shedd-Architektur stammt aus dem englischen Manchester, aber die Gründerväter des «Manchester des Festlandes» (Mulhouse) unterschieden sich in Vielem wesentlich von den frühkapitalistischen Ausbeutern auf der Insel.


Die Zäsuren durch die Kriege wirkten sich tödlich auf die Mülhauser Industrie aus - insbesondere ist schlimm, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg im Elsass angestiftet haben: Da wurde die Infrastruktur weitgehend zerstört und als Folge des in den Nachkriegsjahren nur verlangsamt wachsenden geringen Bruttosozialproduktes auch nie mehr wiederhergestellt. Zumal die Eisenbahnen und die Trambahnen, die zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg das öffentliche Verkehrs- und Transportmittel im Elsass schlechthin waren. Derweil profitierte der Kriegsverursacher Deutschland von den Abermilliarden aus dem Marshall-Plan…

Auch wenn die Textilbranche nach dem Zweiten Weltkrieg einen erneuten kurzen Aufschwung bis Ende der 60er-Jahre nahm, so waren doch die einstmals stolzen und innovativen Gründerfamilien um ihre Triebkraft beraubt und sahen erst noch ihr Kapital davonschwimmen wie die Farbe in der Thur, die von den Anilinfarbstoffen aus Basel stammte, womit sie von Wesserling bis zur Mündung in den Rheinzufluss den Fluss vergifteten…

Das war die Zeit der Auslagerung kostenintensiver Hilfsarbeit in Billiglohnländer - Asien zumal. Das Kapital verkaufte seinen eigenen Strick, aber zunächst wurden vor allem die Arbeiter und deren Angehörige von ihren Arbeitgebern daran aufgehängt. Die Verursacher der Krise hatten Ihr Scherflein schon längst im Trockenen und bauten sich private Autosammlungen oder ebenso unnütze Pferderennställe.

Mit der Auslagerung in Billiglohnländer gingen nicht nur Arbeitsplätze und Volkseinkommen zugrunde, sondern hochentwickelte Fertigkeiten, Kunst im Handwerk, Innovationskraft der Technik, die auf andere Branchen übergriff, Kultur und Zivilisation.



Die Bausubstanz ist attraktiv - das Terrain für Spekulationen auch…


Wer in Basel wohnt, kann sich einen Begriff machen, wenn er weiss, dass das frühere grösste und agilste Warenhaus «Rheinbrücke» bis in die siebziger Jahre eine ganze riesige Etage für Textilien und Stoffverarbeitung unterhielt, und wer heute in der Region ein Möbel- und Dekorationsgeschäft wie «Ikea» aufsucht, wird dort nur rote oder blaue, einfache, aber spottbillige, schandbillige, Ware finden. Augenfällig einfarbig. Doch wer im vergangenen Jahr in Sainte-Marie-aux-Mines das Patchwork-Festival besuchte, dem ist sicher aufgefallen, dass es zu einer solchen Verarmung von Auswahl gekommen ist. Und er fragt sich warum - wenn doch schon das Interesse an Varietäten immer noch so gross ist!

Der «Faden», womit die Elsässer alles vom textilen Abhängige unter einen Fingerhut bringen, ist eben auch ein «roter Faden» durch die ganze Mülhauser Wirtschaft oder Ökonomie, die in ihrem Wortstamm das griechische oikos für «Haus» trägt, also sehr viel mehr unter ihrem Dach vereinigt, als «nur» Geld. Für letzteres hat es nie eine einzige oder «natürliche» Quelle gegeben, sondern es war immer ein Verbund aus Arbeit aus verschiedenen Feldern und immer schön zusammenspielend, gewissermassen in einem Ökosystem, das nur deshalb harmonisierte, weil kein Übergewicht des einen das Gleichgewicht des andern beeinträchtigte…

Die Zeit der Globalisierung zeigt sich sehr augenfällig bei der Betrachtung der Geschichte des «Fadens» in unserer Region: Was einstmals glorios funktionierte, ist heute nur noch ein Scherbenhaufen - nicht mal mehr ein Sanierungsfall! Die Innovationszentren sind anderswo auf der Welt; den Textilhauptstädten sind die Finanzzentren gewichen. Und hustet mal die grösste Schweizer Bank, wer verabreicht ihr heute das Schnupfenmittel? Singapur… Und die Union de Banques Suisses muss später nicht mal ihren Namen anpassen: Union de Banques Singaporiennes heisst in der Abkürzung eben auch UBS!



Spuren des Zerfalls an einem historischen architektonischen Ensemble: Wo kein Wille ist, bleibt auch keine Scheibe heil…






Der Spekulation überlassen: Fast ein Viertel des «roten Quartiers» ist bereits verschwunden, ohne dass adäquate Architektur nachgefolgt ist…

Von Jürg-Peter Lienhard


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