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Artikel vom 16.02.2007

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J.-P. Lienhards Lupe

Deutsch an Bord

Das Elsässische ist tot, auch wenn Deutsch in einigen elsässischen Schulen gelernt wird, ist Deutsch für Elsässer doch eine Fremdsprache, wie jede andere…

Von Jürg-Peter Lienhard



Die Kölner Multimedia-Künstlerin Ulla Lückerath (links im Kapitäns-Dress) bringt kleinen Elsässern von Sennheim per Internet Deutsch bei. Deutsch, das Kinder «Kinners» nennt, was Kölner Dialekt ist, nicht Elässer Dialekt…


Sprachen erweitern zwar den Horizont. Deutsch und Französisch sind aber so inkompatibel wie Macintosh und PC! Deutsche wie Franzosen lernen müheloser Hebräisch, denn die Sprache ihrer europäischen Antipoden! Immerhin gibt es Anstrengungen der sogenannten «classes bilingues», der Zweisprachenklassen, die sprachlichen Unvereinbarkeiten mit originellen Versuchen, statt mit anödender Paukerei, zu «umschiffen»: Doch auch mit zweisprachigen Klassen kann man die elsässische Kultur und ihre Identität nicht mehr retten!

Die elsässisch-alemannische Sprache ist am Sterben: Kein elsässisches Kind in den ersten Klassen spricht mehr seine alemannische Muttersprache, geschweige denn seine Eltern! Zweisprachig im Elsass meint heute «Hochdeutsch und Französisch». Hochdeutsch als Stütze des Alemannischen hat aber ausgedient - was soll Hochdeutsch denn stützen, wenn das Elsässische gestorben ist?

Somit ist Hochdeutsch im Elsass einfach eine Fremdsprache, eine fremde Sprache. Dass sie in sogenannten zweisprachigen Klassen gelehrt wird, hat ideologische und nicht kulturelle Gründe: De Gaulle und Adenauer läuteten nach dem Zweiten Weltkrieg die «Versöhnung» zwischen Deutschland und Frankreich ein und bereiteten so das Terrain für das heutige Europa.

Was als staatsmännische Tat angepackt wurde, das durfte bei der Umsetzung nicht zimperlich behandelt sein, durfte keine lokalen Rücksichten nehmen - der grosse Wurf, oder Entwurf - liess keine Differenzierungen zu! Die elsässische Sprache und die elsässische Identität sind das Opfer. Die wahre «Völkerverständigung» ist der «€uro», dessen Sprache alle und ohne Abendkurse besucht zu haben, in Europa verstehen…

Das eigene Nest, das Haus, wo zu beginnen hat, was leuchten soll über das eigene Gärtchen hinaus, das wird mit Stallgeruch gleichgesetzt, als ob Gelehrte vom Pariser oder Berliner Himmel fallen und die elsässische Wiege nur der Ort dampfender Windeln ist! Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Denn was man zuhause nicht gelernt hat, verschliesst einem auch die Welt: Der Künstler, der der Enge seiner Heimat entflieht, hat seine Sinne eben doch zuhause geschärft und nicht erst in der weiten Welt…

Doch solche Überlegungen sind im Elsass komplett «démodé», aus der Mode gekommen und damit auch beinahe vergessen. Vor dem Vergessen kommt - sie haben es hier mehrfach gelesen -, kommt der Kitsch. Kitsch soll noch etwas wehmütig in Erinnerung haften lassen, was nicht mehr selbst erlebt und gelebt worden war.

Zum Beispiel die «Chàltnàcht», das alemannische «Chilten» oder «Chàlten», was auf hochdeutsch «sich besuchen» heissen will, in Wirklichkeit aber «sich gegenseitig Besuchen» bedeutet. Auf das Gegenseitig kommt es an! Die «Gegenseitigkeit» ist nämlich eine alemannische Eigenart, die in der Volkswirtschaft der Moderne in der Mutualität, dem gegenseitigen Beistehen und (!) dem gegenseitigen Nutzen noch Fortbestand hat.

Der gegenseitige Besuch, das «Chilten» und «Chàlten», hatte zuvorderst einen ökonomischen Grund: Man sparte bei sich zuhause die teure Energie, die man im Winter im Wald holen, dort Bäume mit der Axt von Hand fällen, zersägen, in unwegsamem Gelände transportieren und zuhause spalten, lagern und beigen musste - schwerste körperliche Arbeit, die man nicht mit gedankenloser Verschleuderung der Heiz-Energie entwerten wollte.

Der «Nutzen» aber war nicht das Ster Holz, man «sparte» es ja nicht für sich, sondern nutzte es gegenseitig, der Nutzen war absolut «immateriell»: Er führte zu dem, was «Gesellschaft» bedeutet - nämlich zu einem Zusammenhalt, zu Solidarität, zu Zivilisation und damit zu Kultur. Sogar, auch wenn das nicht einmal in der «Chiltenzeit» an der Tagesordnung war, brachte dieses «Chilten» und «Chàlten» gewisse «Erscheinungen» hervor, die wertvoller für eine Gesellschaft und deren Kultur nicht sein können: Johann Peter Hebel, Jeremias Gotthelf, Nathan Katz - zum Beispiel…

Die materielle Sparsamkeit hatte nichts mit Geiz zu tun. Das «Chilten» und «Chàlten» hingegen war, was uns Fernsehen, Radio, Kino und Internet gestohlen haben: Die Sprache zum Austausch untereinander! Die «Chàltnàchten» waren die langen Winterabende, an denen man um den warmen Kachelofen bei den Nachbarn zuhause hockte, Geschichten erzählte, selbstgedichtete Lieder sang, vielleicht gar ein einfaches Blasinstrument spielte, wobei die Mädchen und Frauen dabei gleichzeitig auch spinnen und sticken konnten.

Die Sprache wurde durch die Bilder geschärft, die die Erzähler hervorzurufen vermochten, und das Gehör durchs Zuhören - so einfach war das. Und ob Sie es glauben oder nicht: Das alles habe ich bis noch vor wenigen Jahren beobachtet und miterlebt. Ich kannte Nathan Katz, der unendlich spannende und warmherzige Erzähler, Yvonne Gunkel, deren Erzählpräsenz eben nicht nur ein Naturtalent, sondern ein im härtesten Training geschliffenes Talent war, das die alemannische Gesellschaft kannte. Das waren abendfüllende Erzählungen vor den kritischsten Kritikern, die jedes heutige Theater fürchten müsste. Nämlich die grossen Erzähler, der ein jeder Elsässer damals war, denn jeder kannte die Tricks und Kniffs, um beim Berichten der nebensächlichsten Alltäglichkeiten immer wieder von neuem die Zuhörer in Atem und Spannung zu halten!

Oder ich erlebte Louis Fortmann, der ohne die allergeringste Ausstattung auf der Bühne und sowieso am Radio erzählen konnte, dass einem das Auge und das Herz überlief!

Noch deutlicher sind mir diese beiden Kerle in Erinnerung, weil sie noch leben und ich sie immer noch gerne zuweilen bei einer Flasche oder zweien treffe: Der sagenhafte Ofensetzer, Künstler und Theatermann, der Quell für erdige Poetik und Urviech von Sundgauer, nämlich Pierre Spenlehauer aus Biederthal, sowie Emil, genannt «Mill», Aebi, auch er ein Urviech vom «Groben Strich» des Sundgaus, aber einer mit einer höchst intelligenten Auffassungs- und Sprachgabe, die um so mehr überrascht, wenn man ihn als Bauer eingeschätzt und dann doch unerwartet ganz schlau und gut informiert erleben muss…

Das ist ein Privileg, ich weiss, aber die Erfahrung kann ich auch in der Deutschschweiz mit niemandem teilen, denn sie ist kaum mitzuteilen: Ich habe an einem Honigtopf geleckt, der jetzt versandet ist. Ich bin Überlebenden vom Mars oder von hinter dem Mond begegnet, den letzten Mohikanern gewissermassen, und bekam durch sie einen Einblick in eine Vergangenheit und in die Gegenwart zugleich. Man müsste diese Erlebensweisen verstehen als jemand mit einem Auge hinten und dem anderen vorne oder als jemand, der ein längeres, langsameres Bein und ein kürzeres, schnelleres gleichzeitig benützt…

Die Entwicklung, das zivilisatorische Gefälle zwischen Stadt und Land, betrug bis zur französischen und damit bis zur industriellen Revolution, gut und gerne 200 Jahre. Diese Schere schloss sich mehr und mehr und bis in die jüngste Vergangenheit, wo ich bei meinen ersten Begegnungen im Elsass noch einen «Rückstand» von gut 40 Jahren ausmachen konnte: Offener Rauchfang in der Küche, also die typischen rauchenden Dächer im Hundsbachtal anno 1970, während ich in Basel bereits mit Zentralheizung gestillt worden war. Ich tafelte bei Pfyffer, der als letzter bei Escoffier in die Lehre ging.

Und ich sah Fossilien, lebende frühkapitalistische Patrons und deren Leibeigene, die nur das «Schysshysli» im Garten als Abort kannten. Ich erlebte den Ausrufer von Oltingen mit seinem Cépi, woran die zwei Buchstaben «C» und «O» für «Commune d‘Oltingue» klebten. Der Ausrufer jedoch konnte weder «Commune» noch «Oltingue» französisch phonetisch korrekt aussprechen.

Ich erlebte eine tiefe Frömmigkeit bei Leuten, denen die Aufklärung nicht davorstand, die nicht bigotte «Betschopf-»Kriecher waren, sondern buchstäblich das letzte Hemd von sich gaben, weil sie die christliche Botschaft auch so lebten! Schon damals erlebte ich das als schier unglaublich, und es wäre noch heute so, wenn in unserer Gegenwart die Ehrfurcht vor dem Leben noch Wertschätzung genösse - nicht die vor dem goldnen Kalb!

Das Gegenwarts-Elsass hat wie auch immer «aufgeholt». Wo ich früher mit meinem VW-Käfer ungebremst bis ins hinterste Thannertal rotzen konnte, gibt es jetzt alle Kilometer angeblich verkehrsberuhigende «rond-points». Die Elsässer selber rattern nicht mehr wie anno dazumal per Döschwo, sondern brausen wie die deutschen und Schweizer Nachbarn per Grosslimousine aus München und Stuttgart und auch aus Sochaux. «Dr Giggel im Jardin» ist längst überfahren und tot auf der Strecke geblieben; die Anpasser und Modernisten haben ihm den Garaus gemacht, ihm, dem elsässischen Giggel, der immerhin ein Hahn, also auch das Wappentier Frankreichs ist. Die elsässische Sprache ist totgemacht worden - in nur 40 Jahren!

40 Jahre, das ist nicht mal eine Generation! In der weniger als 2000-jährigen (alemannischen) Zivilisationsgeschichte am Oberrhein ist es überdies nicht mal die Strecke eines Bleistiftstriches, wenn man 2000 Striche auf der Länge des Küchentisches anbringen wollte! Eigenartigerweise gehen genau diese 40 Jahre einher mit der vom Menschen verursachten Vergiftung der Atmosphäre, und dies ist auch nicht mehr rückgängig zu machen…

Das zeigt denn doch, dass pflegender und bedachter Umgang mit den Ressourcen, den kulturellen, sprachlichen wie auch den materiellen, nichts mit Rückständigkeit zu tun hat. Im Namen des Fortschritts etwas irreversibel kaputtmachen, bloss, weil man einen Rückblick mit Rückstand verwechselt…




Die Frau Lückerath aus Köln meint es ja gut mit den elsässischen «Kinners», und ihr pädagogisches Projekt «Kinners an Bord» ist denn gewiss nicht nur künstlerisch, sondern eben auch pädagogisch wertvoll vom Standpunkt des Fremdsprachen-Unterrichts und der europäischen Völkerverständigung. Es ist auch kein Anlass, den Stab darüber zu brechen oder gar zu kritikasteln. Aber Anlass zu obigen Gedanken…


Ausstellung Ulla Lückerath

Das pädagogische Projekt «Kinners» in der zweisprachigen Schule «Espace Grün» von Cernay mit Bildern und Aquarellen zum Projekt von und mit Ulla Lückerath ist Gegenstand einer Ausstellung daselbst vom Freitag, 23. Februar bis 30. April 2007.

• Vernissage ist Donnerstag, 22. Februar 2007, um 18 Uhr.

• Geführte Besichtigungen auf Voranmeldung (Achtung: Vorwahl für Mobiltelefon): 0033-6 32 62 09 45

Protestnote gegen Ignoranz

Die elsässische Organisation für Kultur und Zweisprachigkeit, «Culture et Bilinguisme», hat eine Protestnote gegen die immer noch diskriminierend ausgeübte Ignoranz der französischen Unterrichtsbehörden gegenüber der elsässischen Sprache oder dem Zweisprachen-Unterricht verfasst, die inzwischen von vielen Künstlern und Intellektuellen aus dem Elsass und den deutschsprechenden Nachbarregionen unterzeichnet worden ist.

Wenn Sie die Note ebenfalls unterzeichnen wollen, laden Sie bitte hier nachfolgend den Text als PDF-Dokument herunter, kopieren es in eine Mail und senden es auf elektronischem Weg mit dem Hinweis, dass auch Sie Ihren Namen unter die Note gesetzt haben wollen, an:

Culture et Bilinguisme
Association pour la promotion
de la culture bilingue en Alsace

eMail: bilinguisme.alsace@libertysurf.fr

(Aus technischen Gründen müssen Sie die obige Mail-Adresse leider abschreiben oder kopieren.)

Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Deutsch für Elsässer «Kinners» mit Ulla Lückerath

• Text zur Ausstellung (französisch)

• Text Protestnote «Culture et Bilinguisme»

• Homepage von «Culture et Bilinguisme» d/f


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