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Artikel vom 14.02.2007

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Basel - Kultur

Alle Fotos: J.-P. Lienhard, Basel © 2007

Stumm über Wyss

Die Laudatio von Reinhardt Stumm zur Ausstellungs-Vernissage «Kurt Wyss - Begegnungen» vom Dienstag, 13. Februar 2007, im Tinguely-Museum, auf vielfachen Wunsch auch zum Runterladen im Format PDF

Von Reinhardt Stumm



Das Publikum wollte ihm den Text förmlich aus den Händen reissen: Der Redner vor dem stummen, aber vielsagenden Porträt eines anderen Wortgewaltigen. Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2007


Reinhardt Stumm über den Fotokünstler Kurt Wyss: «Zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört das Stöbern in den Bücherregalen von Brockenhäusern – eines ist ja gleich bei mir um die Ecke. Vorgestern nachmittag kaufte ich für zwei Franken und mit schwerem Herzen Jürg Federspiels «Die Liebe ist eine Himmelsmacht» und lächelte über die kräftige Kugelschreiberwidmung «Für Mich!»

Dann blätterte ich in einer Werner-Kaegi-Biographie von Manfred Welti. Natürlich fand sich in jenem Buch eine Sschwarzweiss-Fotografie des berühmten Geschichtsprofessors. Auf untadeligem Hochglanzpapier gedruckt ist sie untadelig scharf, man sieht jedes Haar und jede Gesichtsfalte, von der Nasenspitze bis in den unleserlichen Hintergrund sorgfältig abgestufte Grauwerte – und sterbenslangweilig. Nichts an dieser Fotografie geht inhaltlich über das Passfoto hinaus, das absolut deckungsgleich zu sein hat und sonst nichts.

Als ich vor langen Jahren anfing, Zeitung zu machen, ich meine damit, die täglichen Feuilletonseiten zu montieren – man nennt das Umbruch -, lagen Tag für Tag Fotos genau diesen Zuschnitts auf dem Arbeitstisch. Man befestigte ein Blatt Transparentpapier darauf, suchte mit Hilfe von selbstgebastelten Kartonwinkeln den Ausschnitt und fixierte ihn mit dem Bleistift. Ein Ausläufer sauste damit in die Clichieranstalt – ich erinnere mich an Schwitters. Schnell kamen die fertigen Cliches zurück, dünne Zinkbleche, auf denen die Vorlagen seitenverkehrt eingeätzt waren. In der Mettage wurden sie auf Bleiklötze geklebt und in das sogenannte Schiff eingebaut. Zu den anderen, manchmal tausend Einzelteilen einer Zeitungsseite.

Ich war damals bei einer armen Zeitung. Bildauswahl und Bildschnitt waren Sache des jeweils diensttuenden Redaktors des Ressorts. Kurt war bei einer reichen Zeitung, die sich eine Bildredaktion leistete. Natürlich war das für die dortigen Redaktoren eine Erleichterung. Dafür konnten sie aber nicht einfach machen, wozu sie Lust hatten. Bei uns kamen die Fotos in die Löcher, die zwischen den Textteilen übrig blieben oder ausgespart werden konnten. Unsere Bleiwüsten mit Briefmarken waren berühmt – es gab allerlei Spottverse darüber. Wobei die Selbstachtung die Anmerkung gebietet, dass es Gesichter gibt, die harte Auschnitte fordern, weil sie um so besser werden, je mehr man weglässt.

So kann eine Bildreaktion aber nicht arbeiten, wenn sie ihren Namen verdient. Ihren Namen verdient sie, wenn sie imstande ist, den Umbruch einer Zeitungsseite so zu beeinflussen, dass die Bilder – die ja mehr sagen als tausend Worte – zu wesentlichen Informations- oder Inhaltsträgern werden, dass sie gleichberechtigt neben oder im Text stehen.

Und da fängt die Bildlektüre an. Welches Bild warum? Und vor allem: Welches Bild warum nicht? Ich erinnere mich an ein Foto von Kurt Wyss - Bundesrat Tschudi und Gemahlin im Esszimmer. Weil man ja nie Platz hat auf der Zeitungsseite, könnte man das Bild oben mühelos beschneiden und so um die Hälfte kleiner machen, den Tschudis käme dabei nichts abhanden. Die Sachinformation bleibt dieselbe. Stühle soundso, Geschirr soundso, alles klar und einfach, nichts Aufregendes. Die Frage ist höchstens, was essen die?

Es wäre freilich nicht mehr das Bild, das aus der Dunkelkammer kam. Das zeigt den kalten, leeren Raum. Die nur von hellen Schatten überhuschten, hohen weissen Wände machen leichte Gänsehaut, erzählen – genau durch das, was nicht da ist - mehr über die Bewohner dieses Zimmers, als ein darunter stehender Text es könnte. Ohne ein Wort! Ohne die kleinste Bemerkung.

Und da ist die Frage an das Bild eine ganz andere, da fragt keiner mehr, was essen die denn? Da sagt einer: Mir ist schon kalt beim Anschauen. Frieren die nicht? Erinnern wir uns: Genau das ist es, wofür der Fotograf nichts kann! Oder etwa doch? Dieses Bild war ja nicht das einzige, das Kurt Wyss bei jenem Fototermin aufnahm. Vermutlich hat er mindestens einen Film durchgelassen – zwölf, vierundzwanzig, sechsunddreissig Aufnahmen. Dann geht der Herr Fotograf nach Hause, dann entwickelt er, dann schaut er sich an, was er hat und nimmt dieses eine.

Und dafür kann er etwas. Was er fotografierte, ist unbestreitbar da, aber vielleicht hätte er sich nur umdrehen müssen in diesem Zimmer, da wären vielleicht ein paar Bilder an der Wand, Vorhangstoff fiele weich, was weiss ich, der Raum ist am Ende emotional aufgeladen – das will er alles nicht.

Die Entscheidung des Fotografen für die eine oder andere Fassung desselben Familienbildes ist eine Entscheidung jenseits von Brennweite und Bildwinkel. Dafür kann er was. Und wir wissen das und honorieren das zunächst einmal ganz emotional. Wir mögen den Mann, weil er eine Art hat, Menschen zu sehen, die unserer entspricht – oder wir hassen ihn. Wenn Kurt Wyss den Konsul von Monaco alias Glopfgaischt alias Robert B. Christ fotografiert (das Bild hängt hier um die Ecke), dann fotografiert er einen Lebensraum, dann bildet er das Intimste dieses Menschen auf eine Weise ab, die geradezu analytischen Charakter hat, ohne ihn dabei im mindesten zu verletzen.

Und oft genug sitzen wir zwischen Baum und Borke. Wir mögen und mögen nicht. Wir sehen etwas und wissen, es ist die Wahrheit, und sie betrifft uns, weil wir etwas von uns sehen, und wir mögen nicht, was wir sehen, weil wir uns so nicht mögen, und der Fotograf kann nichts dafür. Ehrlich? Kann er wirklich nicht?

Es ist oft bunt gemischt in diesem Beruf – Echtes und Falsches, Wahres und Gelogenes. Jeder von uns weiss, wo er gern beim Wort genommen werden möchte und wo nicht. Bitte nicht, um Gotteswillen nicht, sagt er dann. Und dann ist unser Fotograf dran. Was glaubt er? Wo misstraut er? Wo wünscht er sich Offenheit und Ehrlichkeit? Was hat Qualität und welche? Fingerspitzengefühl, Aufmerksamkeit, Sensibilität und, schon auch, Neugier und manchmal Dickfelligkeit und schlechtes Gehör für protestierende Empfindlichkeit. Denn der Fotograf ist einer, seiner, am Ende gar der einen und einzigen Wahrheit auf der Spur, einer Wahrheit, auf die andere Anspruch erheben.

Hier ist die Antwort auf die Frage, was der Fotograf eigentlich macht, der sich einem etwas klebrig und zäh an die Jacke hängt, nicht weg will und immer noch was Neues entdeckt, hier auf einen Stuhl klettert, dort anfängt, Tische zu rücken, dumme Fragen stellt und einem damit langsam aber sicher auf die Nerven geht. Wann verschwindet der endlich?

Klar, wenn wir davon reden, reden wir nicht vom Pressefotografen. Und das soll den überhaupt nicht kleiner machen. Es ist ein anderer Job! Auch Kurt Wyss kann ein Lied davon singen. Fünf Termine am Tag, drei am Abend, dazwischen Dunkelkammer. Wo kommt einer hin, der arbeiten muss, wie oben beschrieben? Ich habe oft genug mit ihnen zu tun gehabt, der alte Bertolf, Peter Armbruster, der liebe André Mühlhaupt, mein Freund Georg Stärk – schnell, schnell, schnell. Und ehrlich gesagt: Oft genug sind diese Schnellschüsse fabelhaft. Und manche dieser Bilder werden mit ebensoviel Würde alt wie die Fotografie.

Das ist auch leicht genug zu verstehen. In meiner – Pardon, ein Freund taufte sie so – französischen Klobibliothek liegt eine Sammlung von Auktionskatalogen. Grisebach in Berlin zum Beispiel. Nr.107, Mai 2003, Photographie. Ich gehe durch das Register – Wim Wenders, Clarence White, Paul Wolff, Kurt Wyss, Alexander Zhitomirsky, Elfriede Zickmantel -, unter den Nummern 1414 und 1415 von Wyss die Porträts von Joseph Beuys und Heinrich Böll. Sie finden die Bilder auch hier, und Sie kennen sie auch schon. Schätzpreise 800 – 1‘000 Euro.

Da ist der Reporter Wyss. Der ziemlich schnell sein kann und der zuzupacken versteht. Und trotzdem liefert, was nicht jeder liefert – dieser frontal ausgeschnittene Böll mit dieser zwischen den Lippen hängenden Zigarette, das ist schon etwas mehr als ein Passfoto. Es ist Böll, zweifellos, und es ist was über Böll.

Diese Arbeiten öffnen einen anderen Bedeutungshorizont. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob ein Musiker einen Gassenhauer pfeift oder eine Violinsonate von Bach spielt, es kommt darauf an, dass er kann, was er tut, dass er die Kunst beherrscht. Wenn er kann, ist das eine für eine Gelegenheit so gut wie das andere für die andere. Was darüber hinaus geht, ist eine Frage der Auffassung, ist Geschmacksfrage, eine Frage der stilistischen Vorliebe. Da kann es dann allerdings zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Und da ist es dann wirklich auch ein bisschen wie im Theater, wenn Regisseur und Bühnenbildner sich nicht einigen können.

Dabei bewegt sich der Fotograf nicht einmal im Freiraum Kunst, wo Interpretation jede Dummheit sanktioniert. Er muss Wahrheit und Wirklichkeit mindestens so weit respektieren, wie sie noch erkennbar und greifbar sind. Ein Umstand, der uns angesichts der digitalen Fotografie, die jede Lüge erlaubt, bewusst sein sollte.

Wer entscheidet aber, was richtig ist, wenn es um Beurteilungsspielräume geht, die ja zuletzt der Wahrheitsfindung dienen sollen? Mein Gott, ich sage Ihnen eines: Wyss war immer ein verdammter Dickkopf. Und ich sage Ihnen noch eines: Geschadet hat es niemandem, im Gegenteil. Es ist immer Öffnung, es ist immer Bewegung nach aussen, es ist immer Einsichtshilfe und schliesslich, nicht zuletzt, ästhetischer Gewinn.

Kommt dazu, dass es ohnehin nie nur eine Wahrheit gibt, wenn es um Menschen geht schon gar nicht. Was Journalisten schreiben, ist immer dann am besten, wenn der doppelte Boden erkennbar wird, wenn der Schreiber sichtbar bleibt. Dasselbe gilt für den Fotografen. Wenn Fotograf und Schreiber zusammenspannen, werden selbst Widersprüche kostbar – Reibung erzeugt Energie.

Sie werden hier zwei Bewegungsrichtungen finden. Eine folgt dem Zeitstrahl – 54 Jahre mit der Kamera. Mit den Kameras – die machen ja schon ein eigenes Museum mittlerweile. Die andere Richtung, immer neu, quer dazu. In der Längsrichtung finden Sie den Reporter Wyss, den Mann, der – wo immer es ist – die Kameratasche schultert und sich, mal grollend, mal vergnügt, mit den Filmrollen in der Jackentasche auf die Socken macht.

Die Querrichtung? Da ist Wyss der Fordernde, der Mann, der Schlüssel sucht zu den Schlössern, die uns Wahrheiten verschliessen. Da finden Sie die Köpfe, die Geschichte machten und machen.

Es sind insbesondere diese Fotos, die sich wie Briefe an alle lesen. Wieviele Sorgen, Ängste, Befürchtungen, wieviel Heiterkeit, Hoffnung, Kraft laufen in diesen Bildern zusammen. Wo andere reden und breitreden, Sprache brauchen und missbrauchen, ist hier Konzentration, Verdichtung. Es ist wie in einer Küche beim Einkochen – aus vielem wird immer weniger, am Ende bleibt übrig, worauf es ankommt. Und das hält ewig.

Der Lichtbildner – wie er gut deutsch so schön heisst – sucht und öffnet sich das Umfeld, in dem sich für ihn abbildet, was er als charakteristisch, sprechend, angemessen, als wahr, als geklärt und vermittelnd begreift. Und wenn er es gefunden hat und wenn er Bilder daraus gemacht hat, dann, liebster Wilhelm Busch, kann er etwas dafür.

Genug. Ich beherzige die poetische Mahnung, die Julie Schrader (sie starb 1939) an Luther richtete:

91 Thesen schlugst du an.
Neulich hab ich sie gelesen.
Und ich denke dann und wann:
40 wären auch genug gewesen.»



Anmerkung der red.: Bei der mehrfach wiederholten Anspielung «Ehre dem Fotografen» handelt es sich um ein Zitat von Wilhelm Busch, das im gleichnamigen Buch, herausgegeben von Rolf Hochhuth, erschienen im Bertelsmann-Verlag, wörtlich vollständig so lautet (Bd. I., S.399): «Was die Kritik von einem guten Kunstwerk verlangt, ist drin: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bloss die ruhige Haltung fehlt. Wie kommt das nur? Der Mensch tut’s, der Apparat macht’s, und der Fotograf verkauft’s! Drum Ehre dem Fotografen! Denn er kann nichts dafür.»




Aufmerksame Zuhörer: In der vordersten Reihe mit gelbem Couvert in der Hand Kurt Wyss, links daneben seine Gattin Barbara. Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2007

jpl: Wie peinlich - es gibt Leute, die besuchen Ausstellungen von Fotografen und scheuen sich, dabei fotografiert zu werden (ganz links)… Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2007

Von Reinhardt Stumm

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Die Rede von Reinhardt Stumm zum Herunterladen im Format PDF

• Wissenswertes zu Ausstellung und Fotograf im Format PDF

• Direktlink zum Atikel über die Ausstellungs-Vernissage


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