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Artikel vom 15.11.2006

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Elsass - Kultur

Dramatischer Aufruf

Am Samstag, 18. November 2006, 15.30 Uhr, rufen besorgte elsässische Eltern und Eltern-Organisationen zu einer Demonstration in Strassburg gegen die Vernachlässigung der elsässischen Sprache auf

Von Jürg-Peter Lienhard



Das Gesetz Deixonne (1953) bedeutete zwar eine Abkehr von der restriktiven Sprachenpolitik in Frankreich, jedoch nicht gleichzeitig die Förderung der Regionalsprachen. Vielmehr wurde der Bevölkerung eingeredet, dass es «chic» sei, Französisch zu sprechen, wie es eine Karikatur von Tomi Ungerer illustriert. Elsässisch sei dagegen «bäuerlich» und habe keine Zukunft…


Das ist für uns Schweizer (noch) sehr schwer vorstellbar - dass uns unsere ureigene Sprache abhanden kommt, aufgesogen wird von einer Fremdsprache, und jeder Widerstand dagegen als lächerlich oder gar als «revisionistisch» abgetan wird. Den Elsässern ist dies geschehen, und sie tragen erst noch selbst die grösste Schuld daran! Immerhin sind sie sprachlich derart flexibel geworden, dass sie wohl demnächst auch keine Mühe haben werden, wenn sie auf Arabisch oder noch wahrscheinlicher, auf Türkisch umstellen müssen…

Das Perfide am Sprachenproblem im Elsass ist, dass es stets mit der Loyalitätsfrage verknüpft wird - wirksam, sehr wirksam sogar! Die kirchentreuen Elsässer sind eben auch behördengläubig. Wenn die Behörden sagen, das Ecomusée d'Alsace sei nicht mehr zeitgemäss, weil es die elsässische Vergangenheit darstellt, dann nicken die Elsässer selbstverständlich mit dem Kopf, was für deren Abgeordnete bedeutet, dass sie Millionen und Abermillionen von Euros in den Plastikpark Bioscope stecken dürfen, selbst wenn sehr rasch klar wird, dass dieses kapitalistische, also nicht Gemeinsinn stiftende Projekt kein Publikum anzuziehen vermag!

Sagt man einem Elsässer, er solle doch babbeln, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, dann wirft er sich in die Brust und kräht die blutrünstigste aller Nationalhymnen der Welt, die Marseillaise, und man wird gewahr, dass da ein intellektueller Rückstand, das Unvermögen, Selbstbewusstsein aus den eigenen Wurzeln zu ziehen, sich offenbart. Das geht so weit, dass man die bis ins Mittelalter zurückverfolgbaren Familien Spiegel und Jung, in deren Andenken man in Mülhausen Quartierteile taufte, flugs in «Mirroir» und «Jeun» (also: Spiegel und Jung) übersetzte - aus dem Spiegel-Tor wurde die «porte mirroire» und aus dem Jung-Tor die «porte jeune»…

Irreversibel!

Der frühere oberelsässische Generalratspräsident, der «Vehdoktor» Henri Goetschy, heute um die 80 Jahre alt, erinnert sich gut daran, dass die Politiker in den elsässischen Parlamenten «noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg» nur in elsässischer Sprache debattierten - weil sie Französisch gar nicht «konnten»…

Unter dem monumentalen Gemälde der Adelsfamilie de Thürkheim las kürzlich eine aus dem Sundgau stammende Schulmeisterin den sundgauischen Nationaldichter Nathan Katz in einer, so sagt man unter Sprachwissenschaftern, «kontaminierten» Aussprache: Wenngleich sie das erdige «ch» im Sundgauer Idiom korrekt aussprach, verrieten die e–Endungen die französische «Verschmutzung». Schlimmer jedoch war, dass sie erklärte, dass sie aus «nationalen Gefühlen» dem Französischen den Vorzug gebe: Die Loyalitäts-Deklaration!

Dabei hatte sie niemand danach gefragt, ist niemand davon ausgegangen, dass sie ihre Staatszugehörigkeit verleugne. Aber sie beging ungefragt und freiwillig mit ihrer Loyalitäts-Deklaration Verrat an ihrer Muttersprache, hätte also gar kein Recht, Nathan Katz zu rezitieren, der nicht nur sehr gut Französisch sprach und eine Französin geheiratet hatte - aber nie und nimmer den Schatz seiner Heimatsprache verraten hätte!



Falscher Nationalstolz ist das grösste Hindernis, das sich die Elsässer selber in den Weg legen, wenn es um ihre eigene Sprache geht: Nationalismus steht sowieso im Widerspruch zu Nathan Katz‘ Heimatliebe… Unter der Prämisse «Nationalstolz» dürfte schon gar niemand Katz vorlesen, weil der Freigeist Katz ein Kosmopolit war!


Da war Yvonne Gunkel, die leider viel zu früh verstorbene Diseuse und langjährige Begleiterin Nathan Katz‘ ein ganz anderes Kaliber, weil sie sich ihrer Sundgauer Sprache derart bewusst war, dass sie sie stets betörend und ergreifend vortragen konnte. Zuletzt 1986 im Theater Basel, das für sich in Anspruch nehmen darf, der Sundgauer Sprache mit der «Chàltnàcht», gelesen, nein gesungen von Yvonne Gunkel, Nathan Katz authentisch zum letzten Mal einem Publikum präsentiert zu haben, das dessen Sprache hundertprozentig vollständig verstehen konnte! Wohlverstanden nicht in seiner Heimat, sondern im Ausland! (siehe Anmerkung am Schluss dieses Artikels)



Interessant ist, dass es viele elsässische Wörterbücher gibt - doch das verhindert das Aussterben des Elsässischen nicht, denn nur alltäglicher Gebrauch vermag dies…


Nur noch sieben Prozent der elsässischen Schüler besuchen zweisprachige Klassen - wobei «zweisprachig» heisst: Hochdeutsch und Französisch. Unter dem Gesichtspunkt des Bildungshorizontes ist Hochdeutsch immer noch viel besser und wertvoller als die Einsprachen-Klassen, die ganze 93 Prozent aller Elsässer Jugendliche besuchen.

Man stelle sich das konkret mal vor: Im Lande des Tourismus und der sprachlichen Minderheiten, der Schweiz nämlich, sind selbst die primitivsten Grundkenntnisse einer zweiten Landesprache (Deutsch, Italienisch, Französisch) auch in Hilfsschulen obligatorisch!

Das Drama um die elsässische Sprache ist gelaufen. Leute, die noch vor zehn Jahren mühelos ihren elsässischen Wortschatz beherrschten, suchen heute immer mehr nach Worten, wenn sie mit Schweizern Elsässisch reden. Sie müssen immer mehr ihre Worte suchen, weil sie aus der Übung gekommen sind.

Hellhörige für Sprache und Sprachmelodie (was übrigens keine Kunst ist, weil man sich dies durch Übung selbst aneignen kann), entdecken in der elsässischen Sprache immer wieder einzelne Ausdrücke, die beispielsweise im schweizerischen Alemannischen durch die «gelebte Modernisierung» oder die unselige «politische Korrektheit» (aus USA!) in Vergessenheit oder aus der Mode geraten sind, aber einzigartig und buchstäblich «in einem Wort» den berühmten «Nagel auf den Kopf» treffen. So, dass selbst intellektuell gebildete Akademiker sprachlos sind…

Erst kürzlich stand in der elsässischen Zeitung, dass die Sprachkompetenz der Elsässer derart abgenommen habe, dass ihre Chancen für eine Stelle im benachbarten alemannischen Ausland stetig geringer werden! Nicht nur babbelten die einen unverständlichen Mix aus Elsässisch und Französisch, sondern sie könnten auch nicht mal richtig Hochdeutsch. Sowohl reden, und schon gar nicht lesen… Tatsächlich hat die Grenzgänger-Arbeit in den ländlichen Regionen des Elsass lange Tradition, und gäbe es diese Gelegenheiten in der schweizerischen und deutschen Nachbarschaft nicht, so wäre dies für die elsässische Gesellschaft mit bis zu neun Prozent Arbeitslosen ein verheerender Zustand!

Wenngleich jedes Land für sich und seine Einwohner für genügend Erwerb sorgen sollte, wird es in unserer Region immer Grenzgänger geben, ja geben müssen. Müssen, weil die Infrastrukturen und die Wirtschaft derart verknüpft sind, dass es hüben und drüben Filialen und Aufträge gibt! Beispiel Basler Chemie in Huningue und Village-Neuf…

Bei einem Symposium zur elsässischen Sprache im sundgauischen Waldighofen, übrigens dem Geburtsort von Nathan Katz, hat kürzlich ein prominenter Teilnehmer klipp und klar alle wohlgemeinten Problemanalysen blossgestellt: Nicht allein zuwenige Lehrmittel läge dem Problem zugrunde, sondern der mangelnde politische Wille (!). Wenn selbst elsässische Politiker unter sich nur Eau-de-Cologne gackerten, so pfiffen auch die elsässischen Küken nicht mehr elsässisch…

Trotz trüben Aussichten, trotz Diffamierungen und den Vorwürfen wegen Illoyalität gegenüber dem französischen Staat, manchmal höchst primitiv auch als «Separatismus» oder gar als «revisionistisch» mundtot machenden Versuchen, gibt es immer noch viele Elsässer, die der Entwertung ihrer Muttersprache Widerstand bieten wollen. Und die Aktiven darunter wissen sehr gut, dass es auch noch viele Elsässer gibt, die sich mit der Faust im Sack begnügen…

Gegen diese «Ohnmacht» will nun am kommenden Samstag, 18. November 2006, 15.30 Uhr, der Verein «Culture et Bilinguisme» (Kultur und Zweisprachigkeit) mit einer Demonstration auf dem Kleber-Platz in Strassburg aufrufen - auf Französisch, eben, was wir hier gleichwohl gerne im vollen Wortlauf abdrucken. Damit es unsere Elsässer Leser verstehen können… (Die gebildeten Schweizer jedenfalls verstehen Französisch mühelos!)



Asterix auf Elsässisch: «Asterix an de Olympische Spieler» - wird wohl kaum gross das Leseverhalten der nur noch französischsprachig aufgezogenen elsässischen Kinder beeinflussen. Der Band zeigt guten Willen, aber der notwendige fehlt gleichwohl in der elsässischen Gesellschaft - nämlich der politische Wille!


«Bonjour,

En Alsace l'effondrement de la connaissance de l'allemand et de son dialecte provoque non seulement la perte d'un atout culturel , mais aussi économique et social. Ce déclin bien avancé doit maintenant être enrayé, et la tendance inversée

Un rassemblement initié par quelques associations, a pris une dimension régionale, nous sommes arrivés à réunir non seulement plusieurs associationsde parents d'élèves, mais aussi les acteurs culturels ainsi que les élus de différentes formations politiques. Les prises de positions de Bernard Stoessel, d'Andrée Buchmann sont très fortes, un réel changement est en marche. Nous sommes également soutenus par plusieurs députés, par de nombreux maires.

Samedi 18 novembre 2006, 15.30 h, place Kleber à Strasbourg, c'est le nombre de personnes présentes qui sera déterminant. Chacun de nous peut sûrement se trouver une raison de ne pas y aller, le match de foot du petit dernier, les courses à faire, le petit bricolage du samedi, tout cela est certes important, mais la réussite de ce rassemblement peut faire évoluer le point de vue des trois signataires des collectivités locales de la convention (Adrien Zeller, P. Richert et Charles Buttner).

Si nous nous retrouvons une petite centaine, nous serons ridicules.

Nous sommes des parents, grands parents, habitants d'une région en perte de vitesse. Allons nous accepter cela ? Ne voulons nous pas transmettre la prospérité, la qualité de vie que nous connaissons à nos enfants ? Devons nous accepter de payer deux fois l'enseignement des langues comme nous payons déjà deux fois le TGV Est ?

Ne comptez pas sur le voisin, sur les amis, pour défendre vos intérêts et celui de vos enfants, petits-enfants et de toute la population, mais déplacez vous personnellement, et mieux, emmenez avec vous les personnes de votre entourage. Vous vous êtes tous déjà beaucoup impliqués, il serait dommage que tous vos efforts soient perdus, par la signature de cette nouvelle convention, qui est loin des objectifs de celle de 2000-2006.

Parlez en autour de vous, dans vos écoles, entreprises, lieux de vie, distribuez des tracts, diffusez ce message par vos adresses internet qui en feront de même.

Le 18 novembre 2006,15.30 heures, nous serons tous ensemble unis place Kleber. Un rassemblement de cette ampleur pour nos langues, pour notre culture, avec tous les différents acteurs régionaux est une première dans notre région. Faisons en sorte de réussir cela pour nos enfants, pour notre région.

N'hésitez pas à contacter l'une ou l'autre association du collectif «Alsace bilingue» si vous avez des questions.

Cordialement

Françoise Schaffner CULTURE et BILINGUISME
Tel 03 88 36 48 30 ou mél bilinguisme.alsace@libertysurf.fr»


Anmerkung zu «Chàltnàcht» Nathan Katz

Szenische Lesung am 20. November 1985 im Theater Basel mit Gedichten von Nathan Katz und Erzählungen über Nathan Katz von Yvonne Gunkel mit den Musikern «Géranium» und der Darstellergruppe «Burgdeifela» in einer Inszenierung von Jürg-Peter Lienhard. Mehr dazu siehe untenstehender Link.

Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• «Chàltnàcht» - Nathan Katz am Theater Basel


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