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Artikel vom 30.10.2005

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Schmidt präsentiert

Präzis durchdachte Phantasterei

Der Roman «Morels Erfindung» von Adolfo Bioy Casares verdient mehr Beachtung, weil er das «Cyberspace» hellsichtig schon vor dem Zweiten Weltkrieg vorausphantasiert hat

Von Aurel Schmidt



Der Roman «Morels Erfindung» von Adolfo Bioy Casares ist ein absolut visionäres Buch. Der argentinische Schriftsteller hat darin vorweggenommen, was den Meisten heute geläufig ist. Im Bild: Aurel Schmidt mit «Morels Erfindung». Foto: Ruedi Suter, Basel © 2005



In dem Werk, das 1940 erschienen ist, hat sein Autor mit einer erstaunlichen Hellsichtigkeit eine Entwicklung vorweggenommen, die uns heute selbstverständlich erscheint. Nur fehlt ihm damals die angemessene technische Sprache dafür. Alles andere war visionär.

Zu gern hätte ich gewusst, warum ein Buch nicht die Aufmerksamkeit findet, die es mehr als verdient. Der Roman «Morels Erfindung» von Adolfo Bioy Casares erschien 1940 und nimmt eine Entwicklung vorweg, die damals niemand voraussehen konnte, uns Heutigen aber durchaus geläufig ist: die virtuelle Realität und Reproduktion. Es gab damals, als der Roman geschrieben wurde, keinerlei Anhaltspunkt für die Annahme einer Entwicklung wie dieser. Um so mehr ist im Rückblick seine visionäre Qualität zu bewundern.

Adolfo Bioy Casare wurde 1914 in Buenos Aires geboren und war eng mit Jorge Luis Borges befreundet, mit dem zusammen er eine eigenwillige phantastische Literaturgattung entwickelt hat. Auch Borges hat mehrmals das Thema der künstlichen Replikation der Realität aufgegriffen.

Aufhebung von Abwesenheit

Soviel zur äusseren Situierung des Romans. Nun zu seinem Inhalt, soweit dies zum Verständnis erforderlich ist. Der Erzähler ist ein entlaufener Häftling, der sich auf einer fremden Insel verborgen hält. Er beobachtet aus seinem Versteck Leute, die sich wie Feriengäste auf der Insel unterhalten. Einmal begegnet er einer Frau, die ihn aber merkwürdigerweise nicht zu sehen scheint. Alles ist sehr geheimnisvoll.

Diese Frau, die Faustine heisst, unterhält sich mit einem Mann, der Morel genannt wird und offenbar der Gastgeber ist. Die Gespräche, die sie führen, wiederholen sich in regelmässigen Abständen. Auch das ist merkwürdig, ebenso wie die Tatsache, dass der Erzähler, mutiger geworden, sich unter die Personen auf der Insel mischt, ohne jedoch von ihnen wahrgenommen wird.

Eine Maschine zur Vorspiegelung des Lebens

Einmal hört der Erzähler Morel zu einem der Gäste sagen, «dass alles, was Sie getan und gesagt haben, aufgezeichnet ist». Auch das ist schwer zu verstehen.

Aber dann wir allmählich klar, dass Morel «ein mechanisches und künstliches System der Reproduktion von Leben» erfunden hat, das heisst «Apparate zur Aufhebung von Abwesenheit». Auf Morels Insel bestehen viele Welten «gleichzeitig und fast an derselben Stelle ohne Kollusion». Sogar Gerüche und taktile Empfindungen sind aufgezeichnet worden. Nicht ausgeschlossen, dass es eines Tages Apparate geben wird, die «Gedachtes und Empfundenes» aufzeichnen können «wie ein Alphabet». Manchmal steigt Dr. Morel in den Keller des Hauses auf der Insel, um sich die Maschinen anzusehen, die, unter Mithilfe unter anderem einer Firma «Schwachter, St. Gallen» erbaut, in der Lage sind, Leben vorzuspielen beziehungsweise vorzuspiegeln.

Konservierung des Lebens

Was Bioy Casares vorgeschwebt war, als er das Buch schrieb, war der Traum von der Verwirklichung von Unsterblichkeit. Jeden Tag und zu jeder Zeit sollte es möglich sein, die Leute neu zum Leben zu erwecken, nicht in Wirklichkeit, jedoch wenigstens «als unbegrenzte Konservierung funktionierender Seelen», sozusagen wie in einem Film.

In Wirklichkeit jedoch hat Adolf Bioy Casares 1940 den virtuellen Raum literarisch beschrieben und vorweggenommen. Nur dass er noch nicht über eine Sprache verfügte, um die technische Ausführung seiner Idee wiederzugeben: Simulakrum, Immersion, Virtualität, datengenerierter Raum, Tele-Präsenz, Cyberspace und so weiter. Sogar die Übertragung haptischer Widerstände ist auf Dr. Morels Insel verwirklicht – etwa, das heute noch nicht möglich ist.

Bis ins letzte Detail durchdacht

In der sprachlichen Konstruktion seiner Erfindung geht Bioy Casares mit restloser Konsequenz vor. Jedes kleinste Detail ist berücksichtigt und bis ins Letzte durchdacht. Um einen wissenschaftlichen Anschein vorzutäuschen, fügt Bioy Casares fiktive Fussnoten ein.
Man hat den Roman als Beispiel eines «psychologischen Realismus» bezeichnet. Viel eher jedoch geht es um etwas anderes: um präzise oder realistische Phantasie. Was man denken kann, ist in Zukunft nicht mehr unmöglich. Daher die Kühnheit und Modernität von Bioy Casares‘ Roman.

Warum bekommt dieser Roman also nicht die Beachtung, die er verdient? Er liegt seit einiger Zeit in einer neuen Übersetzung von Gisbert Haefs mit einem Nachwort von René Strien bei Suhrkamp vor.

Zum Buch

Gattung: Roman. Stil: experimentell / philosophisch.
Das Buch ist geeignet als: Lehrstück / Wissenserweiterung / Lektüre zum Nachdenken.
Ich empfehle das Buch besonders für solche Menschen: nachdenkliche / wissbegierige.
Ich bewerte das Buch als: meisterhaft / ungewöhnlich / innovativ.




Der Autor und sein Buch: Adolfo Bioy Casares und der in Deutscher Übersetzung bei Surkamp erschienene Roman «Morels Erfindung».

Von Aurel Schmidt

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Klappentext des Suhrkamp-Verlages

• Homepage Surhkamp-Verlag (schwierige Suchfunktionen)

• Falls Sie die Angaben zum Buch bei Suhrkamp nicht finden (pdf-Datei)


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