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Artikel vom 01.05.2005

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Mit Stumm unterwegs

Verstörendes Betrachten

Das Schaulager in Münchenstein zeigt hintergrundbeleuchtete Riesenfotografien des kanadischen Künstlers Jeff Wall - Fotoreportage von der Vernissage

Von Reinhardt Stumm



Eingangspartie zum Schaulager mit merkwürdigem Garderobe-Häuschen davor und Grossbilschirmen mit Ausstellungs-Beispielen von Jeff Wall. Alle Fotos: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



MÜNCHENSTEIN.- Jeff Wall stammt aus Vancouver, er lebt dort und er arbeitet dort. Die meisten seiner Bilder entstehen dort. Basel hat früh und intensiv Beziehungen zu ihm gepflegt, der Sammlungsbestand (Kunstmuseum, Bâloise-Gruppe, Emanuel Hoffmann-Stiftung und Privatsammlungen) ist erfreulich. Die siebzig Arbeiten von Jeff Wall, die jetzt bis Ende September im Schaulager zu sehen sind, repräsentieren die ganze Schaffenszeit von annähernd 1978 bis heute.

Insgesamt verzeichnet der zur Ausstellungseröffnung erschienene, von Theodora Vischer und Heidi Naef herausgegebene Catalogue Raisonné mit allen (als gewissermassen gut zum Druck verabschiedeten) Arbeiten ohnehin nicht mehr als 120 Nummern. Das ist, will es scheinen, für über 25 Jahre nicht viel.

Anders ist es, wenn man Jeff Walls Bemerkung in Rechnung stellt, dass es durchaus manche Bilder gibt, für die er nicht mehr als zehn Minuten brauchte, dass andere hingegen fünfzehn Monate und mehr in Anspruch nahmen.



Sam Keller, Direktor der ART Basel, als Besucher-Model an der Vernissage.



Das wird dann verständlich, wenn man Fotografie so versteht, wie sie hier betrieben wird – digitale Fotografie. Die Technik macht es möglich, dass fotografische Abbildungen (von was immer) wie gemalte Bilder bearbeitet werden können. Womit Jeff Wall erreichte, was er den Malern immer neidete – dass sie beseitetreten und ihre Bilder betrachten können, um sie zu verändern, zu verbessern, zu ergänzen. Die Zeit, in der das geschieht, ist völlig ihnen überlassen. Digitale Fotografie ist Malerei mit der Kamera.

Das heisst natürlich auch, dass Bild für Bild inszeniert ist – mit Ausnahme der wenigen, die so fotografiert sind, wie wir es immer noch verstehen. Er sagt es selbst – hier dokumentarisch, dort gebaut.



Wo grosse Kunst zu sehen ist, ist auch Museums-Stifter Ernst Beyeler nicht weit.



Wobei natürlich sofort die philosophische Frage auftaucht, was dokumentarisch heisst und was gebaut heisst. Jeff Wall hat offene Ohren und noch offenere Augen für das Leben jener Gesellschaft, in der er zuhause ist – und er übersetzt dieses Leben in, wenn man so will, Greifbarkeit. Das Dokument ist zur Metapher verdichtet, ist Kürzel, Ikone, Zeichen, was immer dazu einfällt. Man könnte sagen, Jeff Wall heftet der Wirklichkeit Flügel an.

Man könnte sagen – was könnte man sagen? Die Suche nach der relevanten Beschreibung oder Umschreibung dessen, nicht was er tut, sondern was er leistet, ist das Aufregende und Spannende, denn genau das ist die Arbeit, die der Betrachter zu leisten hat.



An der Wand steht: Jeff «Wand», denn Wall heisst auf Detusch eben Wand.



Die Riesenformate, die im Schaulager ja auch den nötigen Platz haben (das ist ja das Atemraubende an diesen Ausstellungshallen, dass sie jede Beengung, jeden räumlichen Druck vertreiben), die Riesenformate erlauben dem Betrachter ja immer wieder, regelrecht einzutauchen in die vor ihm leuchtende Bildwirklichkeit, die so täuschend echt ist, dass man ihren Wahrheitsanspruch erst mal erkennen und ausdeuten muss. Genauer: Der erste Blick verrät meistens nichts davon, ob es sich hier um Inszenierung oder 1:1-Abbildung handelt (es ist übrigens sowieso immer 1:1-Abbildung, denn es wird ja nicht der Prozess abgebildet, sondern sein Ergebnis, und dieses Ergebnis ist so etwas wie neugeschaffene autonome Wirklichkeit).

Was der Betrachter also zu leisten hat, ist ganz einfach: Er muss das Bild lesen. Er muss, soweit es ihm überhaupt möglich ist, seine Nachricht verstehen lernen. Er muss sich dazu verhalten. Er muss, mit anderen Worten, das Gegenteil von dem tun, was er - die Fotografie betreffend – gelernt hat, er darf sich nicht offenen Auges betrügen lassen, er muss seine Antwort auf die vor ihm leuchtende Behauptung finden.

Ob die Antwort zustimmend oder ablehnend ausfällt, ist – das Werk betreffend - unerheblich. Erheblich ist, dass die Betrachtung Entscheidung fordert. Das ist ganz schön aufregend. Und diese Aufregung sollte sich niemand entgehen lassen.

• Zur Ausstellung ist ein Catalogue Raisonneé mit über 120 ganzseitigen Abbildungen erschienen. Herausgegeben vom Schaulager und Steidl Verlag, Göttingen. Preis 62 CHF.

• Die Ausstellung dauert vom 30. April bis 25. September 2005

• Weitere nützliche Informationen erhalten Sie auf den Links am Ende dieses Artikels.




Foto-Impressionen

von der Vernissage Jeff Wall im Schaulager Münchenstein bei Basel vom Freitag, 29. April 2005 - aufgenommen von J.-P. Lienhard, Basel © 2005




Verstörendes Detail aus dem Bild «Der Denker» - hier in der Vergrösserung und als Ausschnitt für alle Seh-Faulen…



Noch ein verstörendes Detail aus einer im ersten Augenblick idyllisch anzusehenden Grossfoto einer kanadischen Vorstadtsiedlung.



Schrecklich verstörende Inszenierung einer Kriegsszene im ehemals russisch besetzten Afghanistan. Nicht die grausamen «Verletzungen» der Darsteller wirken so grausam, sondern der Soldat in der Mitte, der einen Sterbenden mit einer Maus foppt. (Leider hier in dieser Grösse nicht gut sichtbar.)



Trash-Art und Trash-Kultur des amerikanischen Kontinentes. Jeff Walls Augen filtern diese Symptome nicht aus seinem ästhetischen Blickwinkel.


Eindrücke vom Publikum an der Vernissage

















Seltsam, dass sich Fotografen nicht fotografieren lassen wollen: Peter Schnetz ist aber doch aufs Bild geraten.


Von Reinhardt Stumm

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Link zur Seite des Schaulagers

• Hier nützliche Angaben wie Öffnungszeiten, Eintritt usw. im PDF-Format zum runtersaugen


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